Der Franzose, der erst 2022 die künstlerische Leitung übernommen hatte, beendet sein Engagement zum Ende der Spielzeit und damit mehrere Jahre früher als geplant.
Über die Gründe haben die Beteiligten Stillschweigen vereinbart, halten sich hartnäckig daran. Was nicht für seine Vorgängerin Bettina Wagner-Bergelt gilt, die von Charmatz selbst am Tag zuvor mit der Information überrascht worden war. „Ich bin wahnsinnig traurig und bestürzt, dass er jetzt aufgibt. Ich bin ratlos“, sagt sie gegenüber unserer Zeitung: Das sei für das Tanztheater nicht gut.
Die gegenseitigen Dankesbekundungen waren überschwänglich, von großer Einfühlsamkeit und kreativen Impulsen, von einem Neuaufbruch für das Ensemble, von wunderbaren Bildern, die Wuppertal in eine Tanzstadt verwandelten und von künstlerischen Glanzpunkten schwärmten Stadtspitze, Aufsichtsrat und zuständige Landesministerin. Der so Gelobte wiederum sprach von Liebe, die er für die Zusammenarbeit mit Tanztheater und Werk Pina Bauschs empfand und dankte für die Unterstützung seiner Projekte. „Wenn sich alle gegenseitig so loben, wundert es mich, dass sie sich nun trennen. Wo ist dann der Grund?“, fragt Bettina Wagner-Bergelt, die die Wahl von Charmatz damals vehement befürwortet hatte, „er stand auf meiner Liste ganz oben“.
Findet sich wieder
eine internationale Kraft?
Die Entscheidung war nach einem komplizierten und durch die Corona-Pandemie verzögerten Auswahlverfahren gefallen, das alle Beteiligten, vor allem auch die Compagnie einbezogen hatte – eine Lehre, die man aus den Streitigkeiten mit Intendantin Adolphe Binder zuvor gezogen hatte. Streitigkeiten, die schließlich vor Gericht geklärt werden und teuer bezahlt werden mussten.
Auch heute wertschätzt Bettina Wagner-Bergelt ihren Nachfolger: „Er hat ein so tolles Programm gemacht, ist mit beiden Seiten, seinem Werk und dem von Pina Bausch, bestens umgegangen, hat tolle Großprojekte gemacht, die das Ensemble in die Stadt gebracht haben.“ Sicher sei die Situation schwierig, mit dem Ensemble und dem Werk, auch weil, Salomon Bausch als Rechteinhaber überall seinen Stempel draufmachen müsse. Charmatz habe gar nicht mit dem Genre Tanztheater konkurriert, was auch nicht gut gewesen wäre. Sondern sei als Tänzer und Choreograf auf anderer Ebene unterwegs, mit eigenen Ideen und Ansätzen, etwa dem großartigen Musée de la danse, welches er in Rennes begründete. Auch habe er in der Vermittlung gute Arbeit geleistet. „Er war eine große Chance“, sagt sie und erinnert daran, dass sich Charmatz damals auf sieben Jahre in Wuppertal verpflichtet habe, „weil er es wirklich wollte. Wenn er nach drei Jahren geht, ist das sehr bedenklich.“
Entsprechend groß ist die Sorge der heute 66-Jährigen, die von 2018 in einer Doppelspitze mit Geschäftsführer Roger Christmann das Tanztheater geleitet und dieses mental und strukturell konsolidiert hatte. Für die Zukunft ist sie skeptisch: „Ich hoffe wirklich, dass alle Verantwortlichen wissen, was sie da jetzt tun, denn es ist für das Ensemble furchtbar.“ Es sei fraglich, ob sich wieder eine internationale Kraft finde, die die Intendanz übernehmen werde.
Diese soll nach dem Willen der Stadt an die Gründungsintendanz des zukünftigen Pina Bausch Zentrums gebunden werden. Was die Zukunft des Tanztheaters mit dem des Wuppertaler Schauspielhauses verknüpft. Ihr so einerseits Zeit verschafft, da über diese frühestens im nächsten Jahr endgültig entschieden wird. Andererseits die Zukunft des Tanztheaters aber an den Willen des Stadtrats knüpft, der erst nach der Kommunalwahl im Herbst über die Sanierung des Schauspielhauses final entscheidet.
Führungslos ist das Tanztheater nicht, wenn Charmatz ab August nicht mehr da ist. Es verfügt mit dem künstlerischen Betriebsdirektor Robert Sturm, der mit Dominique Mercy zum ersten künstlerischen Leitungsteam nach dem Tod Pina Bauschs gehörte, der künstlerischen Assistentin der Intendanz, Azusa Seyama-Prioville, und dem kommissarischen künstlerischen Leiter Daniel Siekhaus über ein Führungstrio, das mit dem Werk und dem Tanztheater von Pina Bausch absolut vertraut ist. Siekhaus ist seit 2022 Geschäftsführer des Tanztheaters und bislang stellvertretender Intendant. „Das läuft sehr gut weiter, mindestens so gut wie bisher“, ist Wuppertals Kulturdezernent Matthias Nocke sicher.
Das Werk der weltbekannten Choreografin habe eine solche Qualität, sei zutiefst menschlich und berühre die Menschen, „sodass es unverändert aktuell ist, in einer Gesellschaft, in der das Humane verloren geht, noch mehr zu sagen hat denn je“, versucht er zu beruhigen. In zeitgenössischer Authentizität gezeigt, hier und da etwas weiter entwickelt, hier und da mit neuen Akzenten versehen finde es sicherlich sein Publikum. Der immer wieder geäußerten Kritik des musealen Umgangs mit Pina Bauschs Stücken hält er entgegen, dass sich „der Zielkonflikt zwischen Bewahrung und Weiterentwicklung“ in jeder Spielzeit neu stelle, eine ständige Aufgabe sei, die man nicht erledige und abhefte. Ihr umfangreiches und breites Werk finde nach wie vor quer durch alle Generationen Zuspruch, ist er zuversichtlich.
Die von Charmatz in und für Wuppertal geleistete eigene Arbeit sei durch vereinbarte Gastspiele (mit den Produktionen „Liberté Cathédrale“ und „Club Amour“ ) gesichert. Außerdem seien seine Tanzhappenings („Wundertal“ und „Cercles“) zu gut, um sie als Formate zu beerdigen. Hinzu kommen die laufende Spielzeit mit Pina Bauschs „Die sieben Todsünden“ und Boris Charmatz’ „20 danseurs pour le XXe siècle et plus encore“. Und der Spielplan 2025/26, der noch die Handschrift des Franzosen trägt. Was das konkret heißt, will Daniel Siekhaus derzeit nicht verraten, man arbeite. Im Juli soll kommuniziert werden.
Reden will auch Charmatz nicht, der dem „großen künstlerischen Werk von Pina Bausch in Unabhängigkeit und Freiheit nur das Allerbeste“ gewünscht hat. Was vieldeutig und kryptisch klingt.
Salomon Bausch gehörte am Freitag nicht zu den Danksagern
Dass es geknirscht haben mag, zwischen der Wuppertaler Tanzwelt des Tanztheaters und der französischen von Boris Charmatz’ und seiner Truppe Terrain, dass es Kritik an zu häufiger Abwesenheit des Chefs gegeben haben mag, will niemand offiziell bestätigen.
Auch Salomon Bausch hüllt sich bislang in Schweigen. Er gehörte am Freitag nicht zu den Danksagern beim vorzeitigen Vertragsende. Auf Anfrage unserer Zeitung kam die Antwort, er verreise und werde sich anschließend melden. Sodass auch hier nur gemutmaßt werden kann. Im Moment.
Boris Charmatz’ Aufführung „Forever – Immersion dans Café Müller von Pina Bausch“, die er als artiste complice beim Tanzfestival in Avignon letztes Jahr aufführe, durfte jedenfalls nicht in Deutschland gezeigt werden. Blieb ein siebenstündiges Experiment mit fünf Besetzungen, die das Stück in Dauerschleife in der südfranzösischen Stadt zeigten. Auch gab es immer wieder Missfallensäußerungen an der Besetzung von Pina Bauschs Rolle im Schlüsselwerk.
Der Karneval ist vorüber, die unruhigen Zeiten des Tanztheaters dauern an.