Holk Freytag: Als im Tal noch nicht der Rotstift regierte

Holk Freytag, einst Wuppertaler Generalintendant, erinnert an die Glanzzeiten des Schauspielhauses — und damit an „das vielleicht schönste Theater der Nachkriegszeit“.

Wuppertal. Heinrich Böll, der 1966 mit einer bis heute wegweisenden Rede das Wuppertaler Schauspielhaus eröffnet hat, erklärte einst das Ensemble der romanischen Kirchen und eben nicht den Dom zum wahren Juwel Kölns. Und genau diese romanischen Kirchen waren es, die den Architekten Gerhard Graubner inspirierten, als er für Elberfeld ein Theater entwarf. Von außen ist es immerhin noch zu besichtigen und es lohnt den Moment des Verweilens.

Ein durch klare Linien beeindruckender Gebäudemantel verrät nicht, was den Besucher im Inneren erwartet, der Eingang ist ein Nadelöhr in das Lichtreich der Kunst — so, wie es die romanischen Kirchen vorgaben. Im Inneren ein Lichthof, der zwei Kulturen miteinander verband: Der heimische Lauf der Wupper war in die Flora eines japanischen Gartens eingebettet. Ein Wassergraben trennte das optische Gedankenspiel vom weitläufigen Begegnungsort.

Alles war offen, hell und frei — wie die Kunst, für die jeder Quadratmeter dieser Architektur erdacht wurde. Großzügige, offene Treppen führten den Besucher in den Zuschauerraum — einem architektonischen Meisterwerk und einem Manifest der Demokratie. Keine Ränge, keine Logen. Wer diesen Raum betrat, war Bürger unter Bürgern. Die freie Sicht von allen Plätzen auf die Bühne war dem griechischen Theater nachempfunden.

Von der ersten Reihe an erhob sich der Zuschauerraum hoch über die Bühne, ließ den Schauspieler Diener sein für die Gemeinschaft, deren Stellvertreter die Zuschauer nun einmal sind. Er spielte zu seinem Publikum hinauf und wer auf die Bühne hinunterschaute, sah in seine eigenen Abgründe und Visionen. Er sah auf das Herz des Hauses, auf ein weiteres Meisterwerk. Perfekte, dem „goldenen Schnitt“ nachempfundene Proportionen forderten 40 Jahre lang die Bühnenbildner zur Bestform ihres Könnens heraus.

Um das sanfte Rund der Bühne gruppiert waren die Räume all derer, die das Haus zum Leben erweckten: die Schauspieler, die Maskenbildner, die Techniker und nicht zuletzt die Pförtner und das Kantinenpersonal. An keinem Ort des Hauses konnte man vergessen, wo die Bühne war. Menschen, die hier arbeiteten, wussten, wofür sie es taten.

Das galt auch für die Räume von Dramaturgie und Intendanz. Auch den Entscheidern war immer bewusst, worüber und wofür sie entschieden, denn die Worte Heinrich Bölls, denen Gerhard Graubner das architektonische Gewand verliehen hatte, schienen das ganze Haus zu erfüllen: Keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, der Kunst das zu geben, was sie von Natur ist — frei. Und Bölls berühmt gewordene Worte („Ich kann der Stadt Wuppertal nur wünschen, dass auf dieser Bühne zu weit gegangen werden wird“) waren Programm.

All dies scheint Geschichte — Erinnerung an eine Zeit, da Wuppertal noch mit Ideen und nicht mit dem Rotstift regiert wurde, in der das vielleicht schönste Theater der Nachkriegszeit gebaut wurde und dem großartigen Wuppertaler Theaterpublikum endlich eine ihm angemessene Heimstatt gegeben wurde.