„Das Stück mit dem Schiff“ als Stream Vom erschreckend aktuellen Scheitern unserer Gesellschaft

Das Tanztheater Pina Bausch führte „Das Stück mit dem Schiff“ auf - als Streamingformat im Netz.

Versunken im Selbst: Szene mit Compagny-Neuzugang Taylor Drury (vorne) und  Blanca Noguerol Ramírez (hinten). 

Foto: Tanztheater Pina Bausch/Evangelos_Rodoulis

Die Gesellschaft, wir alle, jeder einzelne, sind gescheitert. Scheitern immer wieder, am Umgang mit der Welt, mit den Menschen, mit der Natur. Scheitern an uns selbst. Der Aralsee, der Ende des 20. Jahrhunderts austrocknete und verschwand, mag Auslöser und Inspiration für „Das Stück mit dem Schiff“ gewesen sein.

Die Naturkatastrophe ist aber nur eine von vielen Krisen, die das menschliche Scheitern vor Augen führen. Vom Klimawandel über das Elend der Flüchtlinge bis hin zur Corona-Pandemie. Pina Bausch fand 1993 mit ihrem Stück viele Bilder dafür, wie der Mensch fühlt, kämpft, aufgibt. Poetisch-melancholische, skurrile oder nachdenkliche Bilder, die deutungsoffen sind und sich im Kopf des Zuschauers damals wie heute wandeln wollen. Am Samstagabend bestand dazu wieder Gelegenheit.

Das Projekt ist ein großes. Vor 24 Jahren wurde das „Das Stück mit dem Schiff“ zuletzt aufgeführt. 1996 im japanischen Saitama. Die meisten, die damals auf der Bühne standen, haben die Compagnie verlassen oder eine andere Aufgabe übernommen. Barbara Kaufmann, Héléna Pikon und Julie Anne Stanzak, die bei der Uraufführung tanzten, leiten nun die Proben, weitere Tänzer geben ihr Wissen eins-zu-eins weiter. Die Rollen werden neu besetzt, auch vier Neuzugänge wirken mit.

Die israelische Choreographin und Regisseurin Saar Magal steuert den Blick von außen hinzu. Das Projekt ist eine Neueinstudierung, Wiederaufnahme, Aneignung. Es sei eine „Dekonstruktion und Rekonstruktion“, sagt Magal, die dem Stück den Weg in die Zukunft weisen soll - nicht nur weil seine Themen zeitlos und unverhoffterweise in der Coronakrise brandaktuell sind. Rekonstruiert werden musste dafür das beeindruckende und vieldeutige Bühnenbild von Peter Pabst.

„Das Epischste, das am meisten Erzählende“, sagt er selbst. Mit seinem großen Fischtrawler auf den sandigen Dünen, der den hinteren Bühnenbereich von der einen zur anderen Seite beherrscht, davor die sandige Fläche für die menschlichen Protagonisten. Die Arche Noah ist gestrandet, das vermeintlich sichere Land schwankt, bietet keinen Halt. Das lebenspendende Wasser gibt es nur in Flaschen, im Eimer, vom Wassersprüher oder als Regen. Jeder ist auf sich zurückgeworfen. Gestrandet mit seinen Hoffnungen, Ängsten, seiner Trauer und Wut. Die Rettung ist ausgeblieben, der Überlebenskampf hat begonnen. Jeder führt ihn für sich - das Stück besteht vor allem aus Soli. Für sie erzähle es von dem durch die Pandemie geprägten Leben im Jahr 2020, sagt Magal.

Sehnsucht und Trostlosigkeit der Menschen sind groß

 Die Sehnsucht ist groß nach festem Boden unter den Füßen, nach Schlaf, nach Berührung und Gemeinschaft, nach dem Entfliegen und nach Spaß. Ein Mann führt eine Frau im Vierfüßlergang, die auf dem Boden nicht wirklich Halt findet. Ein anderer Mann rollt sich schwungvoll in eine Decke und steht sofort wieder auf. Eine Frau und ein Mann klammern sich aneinander, versuchen sich zu küssen, streben wieder auseinander - „ich bin fast erstickt - war das schön“, sagt sie. Ein Mann küsst sich selbst, eine andere Frau wünscht sich „happy birthday“. Liebe ist ein Herz, das man sich auf den Körper malen und wieder durchstreichen kann. Einige wenige Male finden sich die Tänzer zum Ensembletanz zusammen, zum gemeinsamen Wiegeschritt, zur schwankenden Reihe, die sich doch wieder auflöst, auseinanderfällt, keinen Schutz gibt. Männer werden zur Startrampe für eine Frau, die sie in die Luft heben. Finger zeichnen Fluglinien in die Höhe. Arme werden wie Flügel ausgebreitet. Ausgelassene Kinderspiele mit Springseil und Stöckchen, mit Froschsprung und Purzelbaum, groteske Bilder mit Männern, die in Badehose und Schwimmbrille im Sand turnen oder einer Frau, die schrill über Witze lacht, die keine sind, durchbrechen vor allem im zweiten Teil das eher melancholisch-traurige Szenarium.

Die Stimmung ist meist bedrückend, untröstlich. Frauen vollführen zwanghaft die immer gleichen Bewegungsabläufe, bis sie weggetragen werden. Ein Mann kriecht wie ein Ertrinkender durch den Sand, bäumt sich auf, fällt in sich zusammen, kriecht weiter. Die Stimmung ist aggressiv. Ein Mann folgt den Bewegungen einer Frau, fängt sie auf, legt sich unter sie. Als sie den Ablauf unvermittelt unterbricht, unbewegt stehen bleibt, versteht er nicht, brüllt sie wütend an. Die Musik (mittelalterliche, Barock und Renaissance-Klänge, aber auch Musik aus fernen Ländern wie Indien und Namibia) dazu Vogelstimmen, Regentropfen, Urwald-Geräusche, Gewitter und immer wieder Stille unterstreichen die beklemmende Trostlosigkeit. 

Zuschauer im Netz oder vor dem Schauspielhaus

Am Ende versammelt sich das Ensemble auf dem Schiff, den Blick gemeinsam in die Ferne gerichtet. Ein Aufbruch - der auch symbolisch für die Compagnie selbst stehen kann? Ein Bild, das ein Tänzer fotografiert, damit die Bedeutungsschwere auflöst. Peter Pabst setzt gern die Natur ein als Gegensatz zum Kunstraum Theater. Die Coronakrise sorgt dafür, dass der Kunstraum die Oberhand behält: Die Aufführung fand für die Zuschauer nur im virtuellen Raum statt.