Kolumne Allmählich kam die Scham
Wuppertal · Ilka Federschmidt, Superintendentin im Evangelischen Kirchenkreis Wuppertal, über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und das Verhalten der Kirche.
8. Mai 1945. „Wie haben Sie das erlebt, damals?“ habe ich eine altgewordene Frau in meiner damaligen Gemeinde gefragt. „Waren Sie erleichtert?“ Sie zögerte. „Erleichtert? Hm. Ja, irgendwie schon auch erleichtert. Weil der Krieg zu Ende war, Gott sei Dank. Aber man war ja ganz damit befasst, irgendwie durchzukommen. Das hat alles überlagert. Wo kommt das nächste Essen her. Darum ging es.“ Hier in Wuppertal: Zerbombte Innenstädte. Ganz oben auf in Gedanken und Gefühl die vielen Toten, die Phosphorbrände. Und dann, ganz anders: Mein Vater, damals 15 Jahre alt, erzählt, wie amerikanische Soldaten am Niederrhein „ins Dorf“ kamen, und wenn sie gut drauf waren, gab’s für die neugierigen Jungs am Straßenrand auch mal Zigaretten. Für die Jugendlichen auch ein Hauch von Abenteuer. Das wirkt so widersprüchlich, unwirklich.
Aber auch das wurde erschreckend klar, so erinnert er sich: Die Familie Cohen aus dem Dorf war nicht einfach plötzlich weggezogen. Die einzige jüdische Familie im Ort war deportiert worden, und fast alle Familienmitglieder waren im Konzentrationslager ermordet worden. Deportationen jüdischer Menschen auch in Wuppertal, vom Bahnhof Steinbeck aus. Da fuhren sie ab, in unvorstellbares Leid. Misshandlung und Folter politisch Andersdenkender im KZ Kemna. Wenige Monate reichten, hunderte Menschen zu zerbrechen. Den Spuren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Wuppertal kann man auch heute nachgehen, wenn man die Augen öffnen will. Und die Augen öffnen – das vermieden viele, viel zu viele, damals. Und heute?
Und die Kirchen? So allmählich kam die Scham. Widerstrebend bei den einen. Erschüttert und aufgewühlt bei den anderen. „Wir klagen uns an“, so bekannte damals der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, „dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet und nicht brennender geliebt haben.“ Viel zu viel Mitläuferschaft. Viel zu viel Schweigen und im Stich lassen. „Wir sind in die Irre gegangen“, so sagte es das „Darmstädter Wort“ noch deutlicher. Abgrund der Sünde. Sünde, da gehört das Wort in seiner tiefsten Bedeutung hin: Gott und Menschen verraten und verlassen.
Finden Sie das zu düster? Ich gehöre zu denen, die später geboren wurden. Und doch erinnere ich mich aus meiner Kinderzeit, wie sehr und wie widersprüchlich diese Erfahrungen gegenwärtig waren. Bei jedem Probealarm der Sirenen guckten meine Eltern unwillkürlich hoch. Und die Familie Cohen, ja, da wohnte wieder einer im Dorf, ein Sohn, der so gerade überlebt hatte. Man traute sich aber offenbar gar nicht, ihn anzusprechen. Ihn anzusehen. Ich war schon 20, als meine Eltern zum ersten Mal davon erzählten.
Wenn wir heute an den 8. Mai 1945 gedenken, dann auch an den Offenbarungseid, den dieser Tag einleitete: Was für ein unvorstellbares Verbrechen war geschehen. Es mag sich mit dem Abstand der Zeit psychologisch leichter anfühlen, weiter weg rücken, fataler Weise bei vielen verblassen. Die Ausstellung „Todesopfer rechter Gewalt… “, die wir im Februar in der Diakoniekirche eröffnet haben und leider wegen der Corona-Pandemie beenden mussten, macht erschreckend bewusst, wie menschenverachtendes rechtsextremes Denken weiter lebt und neue Nahrung bekommt. Darum ist es wichtig, vor dem in der Tat Düsteren die Augen nicht zu verschließen: Es bleibt ein unvorstellbares Verbrechen. Darum ist es so, wie der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker es in seiner Rede 1985 sagte: Für alle, die darunter gelitten haben und in der Folgewirkung bis heute leiden war es ein Tag der Befreiung.
Wir brauchen das Gedenken. Damit wir uns wachrütteln und als Menschen aufrufen lassen: Auch heute treuer zu beten, mutiger für die Menschlichkeit einzutreten, brennender zu lieben. Als Christen begegnet uns Jesus Christus selbst in den Gesichtern der Entrechteten, der heimatlosen Geflüchteten, der Opfer von Gewalt. Er begegnet uns vor allem in den jüdischen Nachbarn, die sich vor dem wachsenden heutigen Antisemitismus fürchten. Wie schlimm, dass eine solche Furcht heute herrschen darf! Lassen wir das zu?
Die Krise, in die uns alle die Corona-Gefahr stürzt, hat offenbar die fatale Macht, das alles zu überlagern. Die dürfen wir ihr nicht geben. Diese Tage zeigen uns zugleich, wie kostbar unsere Freiheitsrechte sind, wie kostbar menschliche Solidarität und Liebe ist, wieviel Kraft darin liegt, wieviel Hürden sie überwinden kann! Das ist alles andere als düster. Das macht Hoffnung und Mut und will uns heute motivieren zu „mehr davon“. Heute, am 8. Mai 2020, 75 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges.