Debatte 1970 diente der Geburtstag von Engels als Bühne für den Klassenkampf
Wuppertal · Vor 50 Jahren stand die Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe des berühmten Sohnes der Stadt im Mittelpunkt.
Der junge Johannes Rau spricht. Als Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal begrüßt er im Hotel Kaiserhof in Blickweite zum damaligen Bahnhof Elberfeld einige ältere Herren zu einer der Veranstaltungen, die zum runden Geburtstag von Friedrich Engels stattfinden. 2020 feiert Wuppertal den 200. Geburtstag - da lohnt sich der Blick zurück ins Jahr 1970 auf die Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag, als noch viel stärker der politische Diskurs im Vordergrund stand.
Der langjährige WZ-Fotograf Kurt Keil hat Fotos von einem der Empfänge des Engels-Kongresses geschossen. Sie zeigen, dass die Beschäftigung mit dem Erbe von Friedrich Engels „hartes Brot“ war, das damals vor allem männliche Engels-Experten kauten. Seit Freitag ist in der Kunsthalle Barmen eine bemerkenswerte Ausstellung über das Leben des Sozialrevolutionärs und Geisteswissenschaftlers zu sehen, die unter Beweis stellt, wie spannend und anschaulich Geschichte auch vermittelt werden kann.
1970 stand die Auseinandersetzung mit dem Werk und politischen Nachlass von Friedrich Engels im Zeichen des Kalten Krieges. In der Bundesrepublik Deutschland tat man sich im Engelsjahr 1970 schwer mit dem Erbe des Barmer Fabrikantensohns, während sein Wirken in der DDR propagandistisch ausgeschlachtet wurde.
„Neofaschistische Kreise haben am Vorabend des 150. Geburtstages von Friedrich Engels gedroht, das „Haus der Jugend“ in Wuppertal-Barmen, in dem am vorigen Wochenende die Engels-Ausstellung der DKP eröffnet wurde, in die Luft zu sprengen. Wenige Stunden zuvor war bereits in einer Schule in Wuppertal-Elberfeld, aus der einige Klassen die Engels-Ausstellung der DKP besuchen wollten, eine anonyme Bombendrohung eingegangen ...“ So berichtete das SED-Zentralorgan Neues Deutschland am 28. November 1970 in einer Meldung auf der Titelseite über die vermeintlich revolutionäre Lage in Wuppertal. Die etwas holprige, dicke Schlagzeile lautete: „Friedrich Engels ehren heißt für uns, die DDR allseitig zu stärken“.
Zum 150. Geburtstag von Friedrich Engels hatte die Stadt Wuppertal das Engelshaus als Museum und Forschungsstätte mit zahlreichen Dokumenten, Zeichnungen, Briefen und Schriften der Öffentlichkeit übergeben. Treibende Kraft waren die Wuppertaler Sozialdemokraten unter Führung von Johannes Rau, die sich weniger auf den Revolutionär als auf den Sozialreformer Friedrich Engels beriefen. Die konservativen Parteien in der Stadt lehnten Engels dagegen auf breiter Linie als Wegbereiter des Kommunismus ab.
Ein Kampf um die Deutungshoheit entbrannte auch zwischen der SPD und den linken außerparlamentarischen Kräften und Parteien. Die linke Szene in Wuppertal fürchtete, dass die SPD „ihrem“ Engels das Mäntelchen des parteikonformen Genossen überstreifen würde.
Hermann Kopp, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung, erinnerte sich 2015 in einem Interview mit diesen Worten an den Engels-Kongress: „Dass unsere Stiftung dann im November 1970 gegründet wurde, und in Wuppertal, hatte natürlich auch mit dem spezifischen lokalen Umfeld zu tun. Engels ist bekanntlich im heutigen Wuppertaler Stadtteil Barmen geboren. Die SPD war bemüht, ihn als eine Art Stammvater für ihre Politik zu reklamieren, und die damals SPD-regierte Stadt hat deshalb zu Engels’ Geburtstag einen Festakt organisiert, bei dem Brandt in Anwesenheit zahlreicher Honoratioren die Gedenkrede hielt. Dem sollte, dem musste von unserer Seite (das sag ich heute, ich war damals noch kein Kommunist!) etwas entgegen gehalten werden.“
Der Festakt am 27. November 1970 war der Höhepunkt der Feierlichkeiten. Die Rede von Bundeskanzler Willy Brandt „Friedrich Engels und die Soziale Demokratie“ fand große Aufmerksamkeit und ist bis heute in Buchform erhältlich. Demonstrationen von Rechtsradikalen und Stinkbomben im Großen Saal der Historischen Stadthalle waren Begleiterscheinungen einer starken Polarisierung der Gesellschaft.
„Zu einem interessanten und politisch aufschlußreichen Gespräch zwischen Jugendlichen aus der Geburtsstadt von Friedrich Engels und Gesellschaftswissenschaftlern aus der DDR kam es in Wuppertal-Bannen (Fehler im Original, d. Red.). Die jungen Menschen hatten den Wunsch geäußert, mit Vertretern des Marxismus-Leninismus über das Leben und die aktuelle Wirkung des Werkes des Mitbegründers des wissenschaftlichen Sozialismus zu sprechen“, berichtet die Zeitung Neues Deutschland im Mai 1970. So funktionierten Agitation und Propaganda im Arbeiter- und Bauernstaat.
2020 wollten sich „junge Menschen“ an einer Ausstellung über die Engelsorte in Wuppertal und Wuhan beteiligen. So der Plan, bevor die Stadt Wuhan in der Corona-Krise traurige Berühmtheit erlangte.