Streitgespräch: Diskussion über Deutschlands Schulsystem
Hat die Gemeinschaftsschule eine Daseinsberechtigung? Wie steht es mit dem Schulsystem generell in Deutschland?
Herr Bell, mit dem alten Willy-Brandt-Slogan "Mehr Demokratie wagen" wirbt Ihr Parteifreund Jochen Ott für die Gemeinschaftsschule. Das zeigt doch ganz offensichtlich, dass Sie eine 70er-Jahre-Debatte neu aufwärmen. Wozu brauchen wir denn die Gemeinschaftsschule?
Dietmar Bell: Nein, die 70er-Jahre-Debatte um die Gesamtschule hat doch selbst viele Sozialdemokraten traumatisiert. Hier geht es nicht um Ideologie, sondern um Notwendigkeiten. Ich bin Pragmatiker und sage: Um den Bildungsanforderungen zu entsprechen, müssen wir 50 Prozent der Kinder aus allen sozialen Schichten in NRW zur Fachhochschul- oder Hochschulreife führen. Wir denken, das geht am besten mit der Gemeinschaftsschule.
Dr. Rudolf Hösen: Wieso kann das mit dem dreigliedrigen Schulsystem nicht auch funktionieren? Eine vergleichbare Förderung in den inhomogenen Gruppen der Gemeinschaftsschule wäre nach meiner Einschätzung höchstens denkbar bei Klassenstärken von vielleicht zehn Schülern, und das dürfte unrealistisch bleiben.
Benedikt Stratmann: Das Gymnasium ist die am stärksten nachgefragte Schulform. Wir haben bei St. Anna eine ganz geringe Quote von Schülern, die nicht für diese Schulform geeignet sind. Das spricht für die Empfehlungen in der Grundschule und für das System.
Das kann aber nur funktionieren, wenn auch mehr Geld in Bildung investiert wird.
Bell: Richtig. Das System benötigt mehr Geld und größere Kapazitäten.
Stratmann: Aber auch das muss man nicht mit einem Systemwechsel verbinden. Wenn man bedenkt, wie viel Geld in die Gesamtschulen gepumpt wurde, während die Hauptschulen sträflich vernachlässigt wurden. Da liegt der politische Fehler.
Hösen: Ich gebe Ihnen Recht, Herr Bell. Wir müssen es besser schaffen, Bildung unabhängig von der sozialen Herkunft zu vermitteln. Deshalb sagen ja auch wir, unser Schulsystem soll reformiert, aber eben nicht abgeschafft werden. In die Hauptschulen muss investiert werden. Diese Schulform muss leisten, was von der Gemeinschaftsschule erwartet wird. Und die Eltern aus unteren sozialen Schichten müssen davon überzeugt werden, wie wichtig Bildung ist.
Bell: Ich glaube nicht an die Reformierbarkeit des Systems bei Erhalt der Hauptschule.
Stratmann: Wenn man die Hauptschule nur lange genug als Restschule bezeichnet, dann ist sie es irgendwann auch.
Durch den verbindlichen gemeinsamen Unterricht in der Klasse 5 und 6 will die SPD unter anderem erreichen, dass Schwächere von Stärkeren profitieren.
Hösen: Ich fürchte eher, dass Schwächere die Stärkeren in ihren Leistungen mit nach unten ziehen.
Stratmann: Und ich fürchte, dass bei der SPD Ideologie vor Praxis geht. Vielleicht macht aufgrund der rückläufigen Kinderzahlen die Gemeinschaftsschule an einigen Orten Sinn. Sie aber wollen sie dem ganzen Land überstülpen.
Bell: Von Überstülpen kann keine Rede sein. Wir wollen eine sozialere Form des Lernens. Das schließt eine Spitzenförderung nicht aus, im Gegenteil. Die Schulen werden viel mehr Verantwortung bekommen, viel mehr Eigenverantwortung. Grundsätzlich kann ich nur noch mal betonen: Wir hinken im Vergleich der Schulsysteme hinterher. Die dreigliedrige Schulform ist hoch selektiv und kann die Erwartungen nicht erfüllen.
Hösen: In der Zielsetzung sind wir uns doch einig. Auch darin, dass eine bessere Bildung mehr Geld benötigt. Warum aber sollen wir dafür ein bewährtes System aufgeben?
Stratmann: Zumal sich auch die Gymnasien verändern werden. Wir werden sicher kleiner, unsere Sozialstrukturen werden sich verschieben. Es werden mehr Schüler mit Migrationshintergrund bei uns das Abitur machen. Im Moment sind es etwa zwölf Prozent. Wir werden noch individueller fördern müssen.
Hösen: Damit stellen wir uns auch der Konkurrenz, wenn Sie so wollen. Aber der Wandel wird uns nicht so hart treffen, weil wir noch immer Grundschulabgänger abweisen müssen.
Bell: Sie werden sehen, die Zeit wird diese Debatte einholen. Wir bieten auch mit Blick auf den Wirtschaftsstandort NRW mit der Gemeinschaftsschule eine Lösung an. Aber wir wissen auch, dass unsere Glaubwürdigkeit abhängig ist von den Finanzierungszusagen. Klappt das nicht, dann werden wir scheitern.
Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch.