Unital Wuppertal „Wir brauchen eine dauerhafte Suche nach einer guten Kindheit“
In ihrem Vortrag in der Reihe Unital räumte Prof. Doris Bühler-Niederberger mit Vorurteilen auf.
Bei der Frage, wie eine gute Kindheit auszusehen hat, sehen sich die allermeisten Eltern und Großeltern als Experten. Scheinbar weiß jeder, was gut ist für das Kind oder Enkelkind und was man anders machen müsste als die eigenen Eltern. In ihrem Vortrag in der Reihe Unital stellte die Schweizer Soziologin und international bekannte Expertin für die Soziologie der Kindheit, Doris Bühler-Niederberger, wissenschaftliche Erkenntnisse den gängigen Einstellungen gegenüber und räumte mit einer Reihe von Vorurteilen auf. Die aktuellen wissenschaftlichen Studien lassen Kindheit im 21. Jahrhundert in einem weit weniger rosigen Licht erscheinen als es die Erziehenden selbst sehen.
Doris Bühler-Niederberger, die seit 1994 Professorin an der Bergischen Universität ist, forderte die Aufnahmefähigkeit ihrer Zuhörer mit einer Vielfalt von Fakten und Analysen heraus. Sie erinnerte an die Bedingungen der Kindheit im 18./19. Jahrhundert, als das Bürgertum begann, seinen Nachwuchs in der Kinderstube zum Bürger zu erziehen. „Man setzte sich vom Adel durch eine sorgfältige Erziehung ab. Die Mutter überwachte die Kinder des Bürgertums. Sie gingen nicht in die freie Natur hinaus, die Natur und Gesellschaft wurde mit Puppenstuben und Zinnsoldaten simuliert“, erklärte die Referentin.
Parallelen
zur Gegenwart
Im Verlauf ihres Vortrags wurden Parallelen zur Gegenwart sichtbar, denn auch heute werden Kinder immer stärker vor realen und vermeintlichen Risiken beim Spielen oder auf dem Schulweg geschützt. Um ihren Kindern „einen Vorsprung gegenüber anderen Kindern zu verschaffen“ mühten sich insbesondere Mütter, „beim Lernen zu helfen“. Mütter mit höherer Bildung sähen dies lockerer als Frauen mit weniger Einkommen. „Meine Mutter hat auch einmal versucht, mir bei den Hausaufgaben zu helfen. Erst habe ich geweint, dann meine Mutter. Und wir haben es nie wieder versucht“, erinnerte sich Doris Bühler-Niederberger. Alle Studien wiesen darauf hin, dass die vermeintliche Hilfe der Eltern keine positiven sondern in Einzelfällen sogar negative Effekte hätten.
Es sei vielmehr die Wahl des Schultyps und die Zusammensetzung von Klassen wichtig für die kognitive Leistung. Ungerechtigkeit gebe es bei der Empfehlung des Schultyps. „Kinder aus der oberen Schicht werden günstiger von Lehrern und selbst von ihren Eltern bewertet“, so Bühler-Niederberger.
39 Prozent der Kinder in der obersten Schicht seien Mitglied in zwei Vereinen, 19 Prozent in drei und mehr. Die Referentin stellte ein Gegenmodell vor: „Hohen Einfluss hat das Selbstvertrauen der Kinder, eigene Konzepte zu entwickeln, Herr über die eigene Zeit zu sein.“ Die beste Schule sei die im näheren Umfeld, die das Kind ohne Verlust seiner Freunde zu Fuß erreichen könne und nicht die vermeintliche Eliteschule in der Ferne.
Wie sehr sich Einstellungen zum Thema Erziehung über Jahrhunderte in den Köpfen festgesetzt haben, zeige das Beispiel Körperstrafen. Doris Bühler-Niederberger verwies auf internationale Studien, in denen Deutschland in Bezug auf die Unversehrtheit der Kinder gerade einmal unterer Durchschnitt sei. Laut einer Studie von 2016 hält jeder Vierte Ohrfeigen oder Schläge bei einem Diebstahl von Kindern für angemessen.
Ihr Fazit: „Wir müssen weniger normieren und mehr hinschauen, was die Kinder möchten. Wir brauchen eine Kinderpolitik – das ist etwas anderes als Familienpolitik. Wir brauchen eine dauerhafte Suche nach einer guten Kindheit.“