Adventskalender: Wir hier im Quartier Wuppertal Lüntenbeck — das Dorf in der Stadt

Wuppertal · Das Wohnquartier Lüntenbeck kämpft seit Jahrzehnten als eingeschworene Gemeinschaft um Anliegen wie Busanbindung, eigenen Bürgertreff und neuen Zugang zur Trasse.

Gerd Roßbach (l.) und Jürgen Behrendt sind Lüntenbecker mit Leib und Seele. Stolz sind sie auf den Bürgertreff, der ein Gemeinschaftsprojekt von und für die Nachbarschaft ist.

Foto: Kevin Bertelt

Am Wartehäuschen der Haltestelle „Lüntenbeck Ort“ hängt kein Fahrplan. Warum auch? Ein Linienbus ist hier seit Jahren nicht mehr gefahren. Das Dach der Hütte schützt aber beim Lesen des angepinnten „Lüntenblatts“. Die Publikation vom Viertel fürs Viertel offenbart viel über die Menschen, die hier leben: Die Lüntenbecker sind Selbstversorger. Das Quartier hat seinen eigenen Martinszug, seinen eigenen Dreck-Weg-Tag, einen eigenen Bürgertreff, eine eigene Karnevalsparty, eine eigene WhatsApp-Gruppe und eine eigene Kanalgenossenschaft. Die brauchen die Siedler, denn 1959 griffen die Lüntenbecker zum Werkzeug, um in Eigenleistung Abwasserrohre unter den Gärten zu verlegen, die noch heute im Besitz der Genossenschaft sind.

Heutzutage fehlt aber eine Busanbindung zum Glücklichsein. Den Anschluss ans reguläre ÖPNV-Netz der Stadtwerke hatten sich die Siedler 1998 erkämpft – 45 Jahre nach der ersten Anfrage. Doch nach der Corona-Pandemie kassierten die WSW den Busbetrieb wieder ein: zu geringe Fahrgastzahlen. „Da wurde unser Quartier einfach abgeschoben. Finde ich schon schlimm“, sagt Gerd Roßbach, 66 Jahre alt und gebürtiger Lüntenbecker. Jetzt müssen sich die Bewohner der Einfamilien- und GWG-Häuser, die die Kernsiedlung bilden, ein Taxi bestellen, um ohne Auto in die Stadt zu kommen. Immerhin geht das durch das „Taxibus“-System der WSW zum Preis einer normalen Busfahrkarte. Doch ganz zufrieden sind die Einheimischen nicht, denn das Bestellen des Taxis verlaufe nicht immer reibungslos, so Roßbach.

Das Quartier Lüntenbeck Ende der 1950er Jahre. Gut zu erkennen, die Mischung aus Einfamilien- und Mehrfamilienhäusern.

Foto: Behrendt

Solche, aber auch andere Querelen sorgten im Laufe der Jahrzehnte dafür, dass die Lüntenbecker sich nicht so richtig als Wuppertaler sehen. Eingemeindet heißt eben nicht immer eingegliedert. „Wir sind Lüntenbecker“, sagt Jürgen Behrendt, Vorsitzender der Siedlergemeinschaft. „Wir sind das Dorf in der Stadt.“

Dorfleben, das bedeutet: Hier wird die Briefträgerin noch persönlich gegrüßt und Gerd Roßbach glaubt, dass er fast alle Gesichter aus dem Kernsiedlungsgebiet – der Unteren Lüntenbeck – einem Namen zuordnen könnte. Als der 66-Jährige ein Kind war, bedeutete Dorfleben aber noch einen viel kleineren Kosmos als heutzutage. Roßbach erinnert sich: „Als ich fünf Jahre alt war, gab es drei Autos im Viertel. Und nur ein Telefon.“ Wer einen wichtigen Anruf zu tätigen hatte, musste beim Dorfpolizisten vorstellig werden. Die Kinder tobten noch in der alten Scheune des Schlosses Lüntenbeck. „Im Fachwerkhaus wohnte damals noch die letzte Magd, ,Klärchen‘.“ Diese verscheuchte wohl regelmäßig die Dorfjugend. Im Weltkriegsbunker hinter dem Schlosspark hat man früher das Küssen geübt, gräbt Roßbach in Erinnerungen.

Das Dorf hatte damals in Sachen Nahversorgung noch einiges zu bieten: Tante-Emma-Lädchen, Friseur und Metzger – alle verschwunden. Ein kühles Bier gab es in der Kneipe am „Bahnhof“. Auch bis spät in die Nacht, weswegen der urige Tresen selbst bei Taxifahrern in Elberfeld als Geheimtipp für Gäste galt, wenn diese sich nach einem späten Absacker sehnten. Gerd Roßbach verbindet schöne Erinnerungen mit der Gaststätte. „Zur WM 1974 haben wir hier mit 50 Mann das Finale geschaut. Super Stimmung. Gesehen hat man aber wegen des Zigarettenrauchs nix mehr.“ Den einstigen Bahnsteig an den Schienen hatten sich die Lüntenbecker übrigens auch selbst gebaut. Heute sind die Schienen Geschichte und Radler fahren auf der Nordbahntrasse vorbei. Aber wieder merken die Lüntenbecker, dass sie in Sachen Infrastruktur vergessen werden. Ein barrierefreier Zugang steht seit rund zehn Jahren ganz oben auf der Wunschliste der Anwohner. Aktuell laufen die Planungen. 2026 soll es etwas werden mit der Rampe – wenn das mit den Fördergeldern alles gut geht.

Selberbauen ist heutzutage bei solchen Projekten keine Option mehr. Aber auch in der „Neuzeit“ greifen die Lüntenbecker noch gerne gemeinsam zum Werkzeug. Beweis ist der „Bürgertreff“, der heute dort an der Nordbahntrasse steht, wo früher am Haltepunkt Lüntenbeck die Zapfhähne der Kneipe das Dorf versorgten. Hier kommt man zusammen: bei der Seniorenweihnachtsfeier, zum Bingo-Abend oder beim monatlichen Skat-Abend.

Siedlerchef Jürgen Behrendt weiß: So gemeinschaftlich wie heute, war es in der Siedlung nicht immer. Er kam 1986 als Mieter neu ins Quartier und stellte fest: „Für einige war ich kein Lüntenbecker.“ Viele Jahre verlief eine Trennlinie durch die Gemeinschaft. Behrendt: „Es gab immer die Siedlergemeinschaft und die Mieter der GWG-Wohnungen.“ Das habe der 67-Jährige damals gemerkt, als zum ersten Mal seit seines Zuzugs das Siedlerfest auf dem Programm stand – und Mieter gar nicht eingeladen waren.

Historisch gesehen gab es in der Lüntenbeck immer Eigentum und Mietwohnungen. 1937 gründete die Stadt Wuppertal die Trägergesellschaft „Gemeinnützige Kleinwohnungsbau GmbH“, eine Vorgängerin der GWG, die für das Stadtgebiet Kleinsiedlungen bauen sollte. Auch für die Lüntenbeck. Die Planung sah damals 48 Siedlerstellen und 32 Mietwohnungen vor. 1939 wurde mit dem Bau der ersten Häuser begonnen.

Heute sieht Behrendt die Lüntenbecker als zusammengewachsene Einheit. Eines der Projekte, die beim Zusammenschweißen geholfen haben, war unter anderem der Bau des Bürgertreffs. Bis Siedler und Mieter gemeinsam Bauen und ein Vereinsheim an dieser Stelle errichten durften, war es ein langer steiniger Weg mit unzähligen Terminen im Wuppertaler Rathaus.

Am 2. und 3. Advent schaut dann aber wieder ganz Wuppertal auf die Lüntenbeck wenn am Schloss die Weihnachtsbuden aufgebaut werden. Jahrelang war die Freude der Anwohner auf den Budenzauber getrübt. Behrendt erinnert: „Der Weihnachtsmarkt hat in der Scheune angefangen und ist immer weiter gewachsen. Jetzt gilt er als einer der schönsten der Region.“ Entsprechend hoch ist der Andrang – und die Parkplatznot. Doch die Zeiten des schlimmsten Ausnahmezustands, als die Besucher den Lüntenbeckern die Wiesen mit ihren Autos komplett verwüsteten, sind vorbei. Wie bei so vielen Unwägbarkeiten hat die Dorfgemeinschaft gelernt, mit der Situation umzugehen und Lösungen zu finden. Wo ein Lüntenbecker ist, ist eben auch ein Weg.