Anfragen steigen, Fälle werden komplexer Wuppertaler in Not: Im Kampf gegen Bürokratie und Verzweiflung
Wuppertal · Auf die 17 Helfer von „Wuppertaler in Not“ prallen mit emotionaler Wucht Fälle von Menschen ein, die finanziell nicht mehr über die Runden kommen.
Die Anfragen steigen an, die Fälle werden komplexer. Das ist das vorläufige Fazit, das der Verein „WiN – Wuppertaler in Not“ für dieses Jahr zieht. „Die Zeiten sind vorbei, in denen Hilfesuchende nur eine Waschmaschine brauchten“, berichtet Christina Rogusch, Geschäftsführerin des Vereins. „Viele Menschen überfordert zum Beispiel mittlerweile die Antragstellung beim Jobcenter – und zwar unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht.“ Die Verwaltungsarbeit sei aufwändiger geworden, die Antragsverfahren schwieriger. Die Hürden für Menschen, die in Armut leben, seien ohne fremde Hilfe kaum noch zu bewältigen.
700 Fälle pro Jahr bearbeitet der Verein, der sich 1998 als Initiative der Westdeutschen Zeitung, der Wuppertaler Rundschau und Radio Wuppertal gründete. Die Fallzahlen würden die steigende Armut in der Stadt widerspiegeln, bei der oft vieles zusammenkomme, erklärt Rogusch und liefert ein Beispiel: „Ein Arbeitgeber meldet Insolvenz an. Der Laden ist geschlossen, die Frau hat für November und Dezember kein Gehalt bekommen und steht völlig mittellos da. Der Vater des ungeborenen Kindes kann sie finanziell auch nicht unterstützen.“ Das Jobcenter könnte helfen, braucht aber Dokumente, vor allem von der Kündigung. Der Arbeitgeber ist nicht erreichbar. Und nun? „Wir haben vom Verein die ausstehenden Mieten für November und Dezember übernommen, um eine Kündigung der Wohnung zu vermeiden. Und Gutscheine vergeben, damit sie sich Lebensmittel kaufen kann.“ Dass sie ihre Stromrechnung ebenfalls nicht bezahlen kann, steht noch auf der Liste. Und die Hilfe beim Jobcenter.
Im Winter werden Probleme mit Gas und Strom noch drängender
Gerade vor Weihnachten und in der Winterzeit sei es ganz schlimm. „Dann ist es kalt, dann fällt auf, dass das Gas nicht mehr funktioniert.“ Doch wenn es nur das wäre – ein Energieproblem. Mit emotionaler Wucht hingegen prallen Fälle auf die derzeit 17 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein, in denen Kinder in Not sind: „Wir haben einen Fall, bei der eine Frau mit Genehmigung des Jugendamtes die Betreuung ihrer achtjährigen Enkelin übernommen hat, weil ihre Tochter, die Mutter des Kindes, drogenabhängig und nicht in der Lage ist, das Kind zu betreuen.“ Doch jetzt sei diese in das gleiche Haus gezogen, und die Großmutter habe wegen Kindeswohlgefährdung die Auflage des Jugendamtes bekommen, umzuziehen, damit das Kind seiner Mutter nicht täglich begegnet. „Sie hat zwar eine neue Wohnung gefunden, aber das Jobcenter erkennt die Auflage des Jugendamtes nicht als Grund für den Wohnungswechsel an und zahlt nur einen Anteil der vorherigen Wohnung.“
An sich schon kompliziert. Den Anteil des Kindes soll sie nun von den 1000 Euro Pflegegeld bezahlen. „Außerdem sind in der neuen Wohnung grundlegende Renovierungsarbeiten nötig, darunter ein neuer Bodenbelag.“ Damit sie ab Mitte Dezember die neue Wohnung beziehen kann, unterstützt der Verein sie mit 500 Euro. Ein Anfang.
Unterstützer – finanzieller wie personeller Art – kann „WiN“ immer gebrauchen. „Menschen, die sich auf diese Weise für die Gesellschaft engagieren wollen, sollten ganz viel Empathie mitbringen“, sagt Rogusch, „eine Achtung vor Menschen, die in Armut leben und die sich auch nicht scheuen, Hausbesuche zu machen“. Dies sei die beste Möglichkeit, sich einen Eindruck von der Situation der Hilfebedürftigen zu verschaffen. Denn wie die Beispiele zeigen, werde meist festgestellt, „dass die Menschen bedürftiger sind, als es nach ihrer Anfrage zunächst den Anschein hat“.
Die Probleme sind dabei so divergent wie das Leben sie oft provoziert. Die Gesundheit. Das Schicksal. Die Liebe, aus der Hass wird. Oder vielleicht nie Liebe war. Es geht um häusliche Gewalt, wegen der eine Frau von Köln nach Wuppertal gezogen ist. Sie steht in Kontakt mit dem Weißen Ring und der Polizei, aber das Problem ist nicht nur ihre soziale Situation, sondern auch die leere Wohnung, deren Einrichtung sie finanzieren muss. Es geht um Menschen, die nach Arbeitslosigkeit und Scheidung über keine finanziellen Mittel verfügen und schreiben: „Ich bin im Moment total verzweifelt und weiß nicht mehr weiter, habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Durch einen Zufall habe ich von Ihnen gelesen. Es ist mir wirklich sehr peinlich, so etwas zu fragen.“
Ob 400 Euro für ein Bett, 300 Euro für eine Brille oder 350 Euro, damit ein Mädchen an einer Klassenfahrt teilnehmen kann – für normale Lebensumstände wirken diese Beträge leistbar, aber um normale Umstände geht es bei „WiN“ nun einmal nicht. Corona habe ebenfalls dazu beigetragen, die Situation zu verschärfen, wie Christina Rogusch berichtet: So leide eine Wuppertalerin durch eine Long-Covid-Erkrankung am sogenannten Chronischen Erschöpfungssyndrom, das sie ans Haus bindet. „Die Krankenkassen erkennen diese Erkrankung immer noch nicht an und bezahlen keine Behandlungskosten oder Medikamente.“ Während eines Klinikaufenthaltes habe sie Pflegegeld erhalten, „das ihr aber wohl in dieser Zeit nicht zugestanden hat und das sie jetzt in Raten zurückzahlen muss“. Da sie vorher selbstständig war, „brechen mir alle Einnahmen weg“, schreibt sie an den Verein. „Meine Ersparnisse sind aufgebraucht und ich bekomme nur eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente. Wenn Sie mir finanziell helfen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Jeder Betrag würde helfen“, denn zurzeit seien alle Reserven aufgebraucht.
Christina Rogusch ist nun seit zehn Jahren für den Verein aktiv. „Ich lerne selbst unglaublich viel dazu, gerade was den Umgang mit Bürokratie betrifft.“ Was sie jedoch am meisten antreibe, um diesen Job jeden Tag aufs Neue mit ihrem Team anzugehen: „Manchmal erhalten wir anrührenden Dank.“ Und dieser Dank lasse das Herz des Vereins weiter pulsieren. Als Motor, mit engagierter Hilfe wenigstens etwas beizutragen in diesen irritierend rücksichtslosen, von Egoismus und Feindschaft geprägten Zeiten. Gerade jetzt. Zur Weihnachtszeit.