Heftige Debatte Zoff um neue Schulden in NRW: „Herr Wüst, wie naiv sind Sie eigentlich?“

Düsseldorf · Die NRW-Regierung nimmt neue Schulden auf und hält das für normal. Die Opposition nicht – und attackiert den Ministerpräsidenten.

Der nordrhein-westfälische Landtag debattiert im Plenum.

Der nordrhein-westfälische Landtag debattiert im Plenum.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Neue Schulden aufnehmen, um bei sinkenden Steuereinnahmen den NRW-Haushalt noch für das laufende Jahr auszugleichen – ist das statthaft? Das ist die wesentliche Frage, die seit der vergangenen Woche im politischen Düsseldorf hin und her gewälzt wird. Die schwarz-grüne Landesregierung hält das alles für völlig normal, weil die in der sogenannten Schuldenbremse angelegte Konjunkturkomponente das doch ausdrücklich legitimiere. Die Opposition hingegen zürnt und sieht den finanzpolitischen Exodus. Dazwischen liegt eine konjunkturelle Krise in Deutschland – und eine Ampel-Bundesregierung, die ihre ganz eigenen Schlüsse zieht aus dieser Krise zieht.

Diese Gesamtgemengelage verhandelte der Landtag in Düsseldorf in einer Sondersitzung, in der schon die Vorzeichen für echten Stunk zwischen Landesregierung und Opposition sprachen: Die SPD verlangte auch angesichts der fehlenden Kommunikation der Schuldenaufnahme gegenüber dem Landtag nach einer „unverzüglichen Sondersitzung“ und schlug den Donnerstag vor, weil an diesem Dienstag das NRW-Fest auf dem Gelände der NRW-Landesvertretung in der Berliner Hiroshimastraße steigt. Die Regierung setzte dann aber kurzerhand eine Unterrichtung schon für diesen Montag an. Just an jenem Tag, an dem die SPD-Fraktion dem Vernehmen nach die Brandenburger SPD-Fraktion bei Berlin treffen wollte – und nun den Termin unter Genossen absagen musste. Und dann verlangten die Sozialdemokraten auch noch kurzfristig nach einer Fragestunde, die auf Antrag der CDU-Fraktion und nach „Bedenken“ des Landtagspräsidenten Andre Kuper abgelehnt wurde. SPD-Fraktionschef Jochen Ott hielt nicht mehr an sich: „Herr Präsident, Sie haben der Legislative heute einen echten Bärendienst erwiesen.“

In der Sache schickte die Landesregierung Finanzminister Marcus Optendrenk (CDU) ans Rednerpult – und nicht Ministerpräsident Hendrik Wüst, wie das die SPD gerne gesehen hätte. Wüst widmete sich derweil seiner Unterschriftenmappe, hielt gekonnt ignoranten Austausch mit Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) und Europaminister Nathanael Liminski (zugleich Chef der Staatskanzlei), trug zur Sachdebatte aber nichts bei. So bringt der NRW-Regierungschef, der den Unannehmlichkeiten des Alltagsgeschäfts in Auftritten tatsächlich gerne aus dem Weg geht, die Opposition auf den Baum.

Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Fraktion, schimpfte Wüst einen vom „Balkon winkenden Kronprinzen“ und legte per Presseerklärung nach: „Eine Regierungserklärung hat er dem Landtag und der Öffentlichkeit heute einmal mehr verweigert. So weiß niemand, woran man bei ihm ist und was man von ihm zu erwarten hat. Für ihn ist Politik offenbar ein Stummfilm, in dem allein schöne Bilder genügen. Für Führungsaufgaben hat er sich heute damit endgültig disqualifiziert.“

Optendrenk verteidigte derweil sein Tun. Tenor: Die Landesregierung mildere damit die Folgen der bundesweiten Konjunkturschwäche ab, das Kabinett werde in einem Nachtragshaushalt eine sogenannte Konjunkturkomponente der Schuldenbremse nutzen. Dies werde künftige Generationen nicht belasten, weil die Kredite unverzüglich zurückgezahlt werden müssten. Komplett gegen die prognostizierten Steuereinnahme-Ausfälle anzusparen, wäre unverantwortlich, sagte Optendrenk. Gleichwohl werde die Landesregierung aber an vielen Stellen Einsparungen vornehmen - ohne die Priorität für Bildungsausgaben und wichtige Zukunftsinvestitionen zu vernachlässigen.

Auslöser des Kurswechsels ist die jüngste Steuerschätzung, nach der NRW bis 2028 mit insgesamt fast fünf Milliarden Euro weniger Einnahmen rechnen muss. Anfang Juli soll das Kabinett den Nachtragshaushalt und den Haushaltsentwurf für 2025 beschließen, so Optendrenk, der das Motto für Künftiges ausgab: „Sparsam sein, investieren, Brüche vermeiden, Probleme der Zeit angehen.“

Und das alles auch, weil durch die Entlastungsmaßnahmen des Bundes rund vier Milliarden Euro jährlich im NRW-Haushalt fehlten. „Das kommt obendrauf“, sagte Optendrenk. Zudem beteilige sich der Bund nicht ausreichend an den Flüchtlingskosten. Und: Anders als Optendrenk hätten Scholz und Lindner die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse von vorneherein in den Haushalt 2024 integriert. Optendrenk sagte: „Uns bleibt nur noch ein halbes Jahr, um Mindereinnahmen zu kompensieren.“ Das könne der Haushalt nicht auffangen, allenfalls durch „Sparen bei den Schwächsten oder in Sachen Sicherheit“, Beides komme aber nicht infrage. „Wir müssen stattdessen antizyklisch handeln und nicht die Krise weiter verstärken.“ Zur Überraschung kündigte Optendrenk dann auch gleich noch eine Altschuldenlösung für darbende NRW-Kommunen an, die am heutigen Dienstag in Berlin verkündet werden soll. „Das ist der Kontrast zum Bund“, sagte Optendrenk, „er lässt Länder und Kommunen regelmäßig allein“.

SPD-Fraktionschef Jochen Ott zog dennoch ordentlich vom Leder: „Herr Wüst, wie naiv sind sie eigentlich?“, rief Ott. Der Finanzminister sei nicht mehr Herr der Lage, das „Selbstbild ihrer Regierung ist der reinste Selbstbetrug“. Schwarz-Grün investiere nicht, sondern plane „dumme Schulden“, die nichts verbesserten, sondern die „Koalition über das Jahr retten“. Der Koalitionsvertrag sei ein „totes Stück Papier“, die Regierung „ohne Ehrgeiz“. Ott wie FDP-Fraktionschef Henning Höne warfen Wüst wieder vor, nur zu repräsentieren – und nicht zu regieren. „Wembley, Macron in Münster und Leverkusen, das sei ihnen von Herzen gegönnt, wenn alles zum Besten stehen würde in NRW“, rief Ott. „Aber das steht es nicht.“

Höne hob vor allem auf den plötzlichen Umschwung ab, weil Finanzminister Optendrenk noch wenige Tage zuvor gesagt habe, man komme mit dem Geld aus. „Zwölf Tage später fehlen über eine Milliarde Euro. Auf das Wort dieser Landesregierung können sich die Menschen nicht verlassen“, sagte Höne. Die Landesregierung plage sich mit der zweiten „tiefen Haushaltskrise“ herum und missachte das Parlament dabei. Und: Wenn man nicht mal einen Teil von einem Prozent des gesamten Haushalts in NRW von über 100 Milliarden einsparen könne, dann fehle der Wile. Höne: „Wir haben hier eine Landesregierung von Verantwortungsflüchtlingen.“