9. Oktober 1989: Der Tag, an dem Leipzig aufstand

70 000 Menschen gingen am 9. Oktober 1989 auf die Straße. Und zum ersten Mal griff die Staatsmacht nicht ein. Unser Autor besuchte damals Verwandte in der Stadt.

Düsseldorf. Über Leipzig liegt an diesem Montag, dem 9. Oktober 1989, eine fiebrige Spannung. Seit Wochen schon ist die Zahl der jeweils nach den montäglichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche demonstrierenden Menschen angewachsen, aber jedes Mal von der Polizei auseinander getrieben worden.

Die Angst vor einer Eskalation der Gewalt steigt, als am 7. Oktober ein Kommandeur der Betriebskampfgruppen in der "Leipziger Volkszeitung" offen mit Waffengewalt droht und von "Rowdys" spricht, denen die Arbeiterklasse das Handwerk legen werde.

Allen sind noch die Bilder aus Peking in Erinnerung, wo nur vier Monate zuvor die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen worden waren. Honeckers Kronprinz Egon Krenz hatte der Führung in Peking ausdrücklich gratuliert - die Drohungen der Betriebskampfgruppen sind also kein leeres Gerede.

Jeder in Leipzig spürt an diesem Montag, dass sich heute die Dinge entscheiden. Da geschieht am Nachmittag etwas, das die Stimmung verändert und Hoffnung auf einen guten Ausgang macht: Über den Stadtrundfunk, auch über Lautsprecher am zentralen Karl-Marx-Platz ständig wiederholt, verliest der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur die "Erklärung der Sechs", die auch die Unterschriften von drei Sekretären der SED-Bezirksleitung trägt.

"Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt", beginnt der Text, der zu Gewaltverzicht aufruft und "freien Meinungsaustausch" und "friedlichen Dialog" fordert. Initiator der Erklärung ist Roland Wötzel, reformorientierter Sekretär der SED in Leipzig. Er hatte sich am Vormittag aus Angst vor einem drohenden Blutbad an seinen Freund, den Kabarettisten Bernd-Lutz Lange von den "Akademixern" gewandt, der wiederum mir Masur befreundet ist. In Masurs Wohnung wird gemeinsam der Text formuliert, der von den Leipzigern als Signal für Demonstrationsfreiheit verstanden wird.

Und so ergießt sich am Abend nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche die Menge aus der Grimmaischen Straße auf den mit Menschen übersäten Karl-Marx-Platz, um dann auf den 3,3 Kilometer langen Ring zu fluten. Auf 70 000 Menschen wächst der Zug an, meist schweigend, einige tragen Kerzen, manche auch selbstgefertigte Plakate und Transparente.

Darauf auch Karikaturen des ewig grinsenden Krenz, der als Honecker-Kronprinz lächerlich gemacht wird. Stattdessen fordern viele Demonstranten Hans Modrow, den von Honecker kaltgestellten Parteichef von Dresden. Vereinzelt kommt es zu Sprechchören: "Gorbi, Gorbi"- und "Modrow, Modrow"-Rufe oder auch "Stasi in die Produktion". Auch der später berühmt gewordene Ruf "Wir sind das Volk" ist, allerdings selten, zu hören.

An der Fußgängerbrücke am Hauptbahnhof passiert der Zug ein Riesentransparent, nur ein Name: "Modrow". Als die Demonstration am Dietrich-Ring die "Runde Ecke", das Stasi-Hauptquartier, erreicht, ziehe ich meine Verwandten an den Rand, denn wenn es hier zu Auseinandersetzungen kommt, will ich als Besucher und Journalist nicht der Stasi als lebender "Beweis" für westdeutsche "Drahtzieher" dienen.

Aber nichts geschieht. Einige legen Kerzen vor das verdunkelte Gebäude, andere rufen "Schämt euch was". Kurz darauf löst sich die Demonstration auf, viele Gruppen, darunter nicht wenige SED-Mitglieder, stehen noch lange diskutierend in den Straßen. Und alle wissen: Nach dieser Massendemonstration ohne jede Gewalt ist nichts mehr wie zuvor in der DDR.

Später wird sich Egon Krenz, von der SED-Spitze in absoluter Verkennung ihrer Lage am 24.Oktober tatsächlich zum Staatsratsvorsitzenden bestimmt, damit brüsten, er habe den Polizeieinsatz an jenem 9. Oktober verhindert. Die Archive belegen dagegen: Es war die SED-Bezirksleitung Leipzig, die eigenmächtig und gegen die Befehle aus Berlin an diesem Tag den Rückzug der Polizeieinheiten und der tatsächlich einsatzbereiten Betriebskampfgruppen angeordnet hatte.

In den Wochen danach werden die Leipziger weiter demonstrieren. Am 16. Oktober sind es schon 120 000, am 23. Oktober schließlich 300 000, die rund um die Innenstadt ziehen. Aber an jenem 9. Oktober 1989, heute vor 20 Jahren, hatte in Leipzig eine Bewegung begonnen, die wenig später zum Fall der Mauer und ein Jahr darauf zur deutschen Einheit führen sollte.