Austausch mit politischer Sprengkraft
Israel oder Hamas: Wer mehr von der Gefangenen-Freilassung profitiert, und warum sie ausgerechnet jetzt stattfand.
Tel Aviv. Der größte Gefangenenaustausch im Nahen Osten seit mehr als einem Vierteljahrhundert hat erfolgreich begonnen: Die radikalislamische Hamas ließ gestern den israelischen Soldaten Gilad Schalit nach mehr als fünf Jahren frei, dafür kamen die ersten 477 von insgesamt 1027 palästinensischen Häftlingen auf freien Fuß.
Israel durchlebte einen der größten emotionalen Momente seiner Geschichte. Jubel, Tränen und Euphorie gab es auch auf palästinensischer Seite im Gazastreifen und im Westjordanland.
In zwei Monaten sollen 550 weitere Palästinenser freikommen, die Israel aber selbst aussuchen kann. Doch warum findet der lang verhandelte und mehrfach verworfene Austausch gerade jetzt statt?
Mit dem Arabischen Frühling hat sich für Israel die Großwetterlage in der Region geändert. Alte Verbündete wie Ägyptens Staatschef Husni Mubarak wurden gestürzt. Israel stand vor der Frage, ob es künftig noch arabische Vermittler für einen Austausch geben wird.
Daneben bestand die Sorge, dass der vor mehr als fünf Jahren entführte Soldat Schalit in die Obhut des Erzfeindes Iran überstellt werden könnte. Zudem haben die jüngsten Sozialproteste in Tel Aviv Spannungen und Risse in der israelischen Gesellschaft offenbart. Der Austausch wurde zu einem Thema, hinter dem Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen Großteil der Israelis vereinen konnte.
Auch die palästinensische Hamas stand unter Druck. In den Familien der Inhaftierten rumorte es. Außerdem hat die Zivilbevölkerung einen hohen Preis bezahlen müssen. Die Abriegelung des Gazastreifens und Sanktionen Israels haben die Wirtschaft ruiniert. Der Wiederaufbau nach Ende des Gaza-Krieges 2009 hat überhaupt noch nicht begonnen.
Die Hamas kann nun mit dem Austausch ihre Macht festigen und ihr Ansehen verbessern. Gleichzeitig setzt die Hamas die moderate Palästinenserführung von Präsident Mahmud Abbas unter Druck. Ihre Argumentation: Mit der Entführung eines Soldaten habe sie mehr erreicht, als Abbas in jahrelangen Friedensverhandlungen mit Israel.
Die Hamas meint, dass Gewalt die einzige Sprache sei, die Israel verstehe. Sie will deshalb den bewaffneten Kampf fortsetzen und präsentiert sich als Alternative, die wirklich etwas bewegen kann.
Im kommenden Jahr sollen in den Palästinensergebieten ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt werden. Die Hamas dürfte mit dem Austausch bei Wählern gepunktet haben.
Positive Folge des Austausches: Nach 13 Monaten Eiszeit wollen sich Israel und die Palästinenser erstmals wieder am 26. Oktober zu indirekten Gesprächen mit Hilfe eines Vermittlers treffen.