Deutsche glauben nicht mehr an die Soziale Marktwirtschaft

Umfrage: Der Aufschwung kommt nicht an: Niemals zuvor beurteilten so viele Bundesbürger das System als ungerecht.

Gütersloh. Der Wirtschaftsaufschwung vergrößert nach Einschätzung der Deutschen die Gerechtigkeitslücke: Nur noch 15 Prozent glauben nach einer Allensbach-Umfrage, der Aufschwung komme bei ihnen an, 2006 waren es noch 28Prozent. "Das ist ein historischer Tiefstand", bilanzierte gestern die Auftraggeberin der Studie, die Bertelsmann-Stiftung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte noch vor zwei Wochen im Bundestag gesagt, auch die Bevölkerung profitiere von der Konjunktur: "Der Aufschwung kommt bei den Menschen an."

Weiteres Ergebnis der Allensbach-Studie: Die Soziale Marktwirtschaft Deutschlands gilt derzeit nur noch wenigen als vorbildlich. Lediglich fünf Prozent der Bürger bezeichnen Deutschland als "das entwickelte Industrieland, das ihren Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit am nächsten kommt". Die schlechtesten Noten erhielten die USA.

Als wichtigsten Beitrag auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit nannten 74Prozent der Deutschen die Bekämpfung von Kinderarmut, 72 Prozent die steuerliche Entlastung von Geringverdienern, 69 Prozent setzen auf Mindest- oder Kombilöhne. Höhere Leistungen für Empfänger des Arbeitslosengeldes II hielten dagegen nur 28 Prozent der Bürger für geeignet. Auch die stärkere Förderung von Mi-granten fanden lediglich 27Prozent sinnvoll.

Definition Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Funktionieren des Marktmechanismus mit einem sozialen Ausgleich zu verbinden. Das erhöht Konsummöglichkeiten, motiviert die Anbieter zu Innovationen und verteilt Einkommen und Gewinn nach Leistung. Vor allem aber verhindert sie eine übermäßige Marktmacht.

Debatte Es ist die Aufgabe des Staates, den Rahmen für einen funktionierenden Wettbewerb zu schaffen. Doch die Reichweite der Eingriffe wird wieder diskutiert. Konsens ist: Der Staat darf die Fähigkeit der Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln nicht lähmen, indem er in zu großem Maße Verantwortung übernimmt.

Eine Große Koalition, die nicht einmal eine Gesundheitsreform hinbekommt, soll jetzt nach einem neuen Wirtschaftsmodell suchen. Der Auftrag ergibt sich jedenfalls aus der repräsentativen Umfrage von Allensbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Danach finden lediglich noch fünf Prozent der Bürger die Soziale Marktwirtschaft für ein entwickeltes Industrieland vorbildlich.

Ludwig Erhards Idee vom "Wohlstand für alle" hat ja schließlich auch bereits über ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel, heißt es. Zwar war die Soziale Marktwirtschaft, mit der Erhard vor allem den von der SPD damals geforderten Sozialismus abwehren wollte, mit Auslöser des Wirtschaftswunders. Aber viele halten dieses Modell im Zeitalter der Globalisierung für nicht mehr zukunftsfähig.

Als vorbildlich empfinden rund sechs von zehn Bundesbürgern heute dagegen die modifizierten nordischen Wirtschaftsmodelle, mit denen Dänemark und Schweden seit einigen Jahren auf einer wirtschaftlichen Erfolgswelle schwimmen. Die Bürger wollen die Modelle als Blaupause kopieren, weil sie davon so viel Gutes gehört haben.

So einfach ist das aber nicht, denn viele Bürger haben diese skandinavischen Modelle nicht begriffen und wissen nicht, was sie sich da einhandeln könnten. Ein Beispiel: Acht von zehn Bürgern halten laut Allensbach die Höhe aller Steuern und Abgaben in Deutschland für zu hoch. Die skandinavischen Modelle haben noch deutlich höhere Belastungquoten. In Schweden ist Steuerflucht geradezu Volkssport. Auch Kündigungsschutz, eine Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft, ist in Skandinavien weitgehend unbekannt. Rente gibt es seit Jahren erst mit 67. Und dass Finnland bei den Pisa-Studien spitze ist, liegt daran, dass das Land traditionell kaum Einwanderer zählt. Vorbildlich ist der Norden bei der Familienpolitik - da holen wir gerade auf.

Was Deutschland braucht, ist ein eigenes Modell auch als Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Darüber sollte eine gesellschaftliche Debatte angestoßen werden. Am Anfang muss die Information stehen, wie und zu welchem Preis andere Länder dies gelöst haben. Ein Modell für alle ist schwierig. Es sollte aber von möglichst vielen Bürgern als gerecht empfunden werden.