Umfrage: Angst vor dem Abstieg

Die Deutschen vermissen soziale Gerechtigkeit – und wollen den starken Wohlfahrtsstaat.

Düsseldorf. Noch im Bundestagswahlkampf 2005 hatte die Union auf marktliberale Reformen gesetzt. Der Staat sollte radikal schrumpfen, die Steuererklärung auf den Bierdeckel, das gesamte Sozialsystem auf den Prüfstand. Doch der Wahlkampf wurde für Angela Merkel fast zum Debakel und die marktliberale Wende fiel aus: Die Bundesbürger misstrauten den Kräften des globalisierten Marktes und setzten auf die Umverteilungsmacht des Staates.

Die aktuelle Emnid-Untersuchung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass sich die Skepsis verstärkt hat. Die USA und Großbritannien, noch vor kurzem von Politikern aller Volksparteien als Länder der unbegrenzten ökonomischen Möglichkeiten gepriesen, gelten den Deutschen nun als soziale Geisterbahnen. 69 Prozent aller Befragten bezeichnen die USA als "das Industrieland mit der geringsten sozialen Gerechtigkeit".

Eine deutliche Mehrheit von 57Prozent hingegen schwärmt von Schweden und Dänemark. Die skandinavischen Staaten hatten in den 80er und 90er Jahren die Sozialsysteme modernisiert und dabei ihre traditionellen Profile als umverteilende Wohlfahrtsstaaten weiter geschärft. Tatsächlich ist die Armuts- und Arbeitslosenquote im Norden Europas niedrig; auch die Bildungssysteme erreichen bei Rankings durchgehend gute Noten - Skandinavien verspricht "snörrige" Gemütlichkeit.

Die Bundesbürger lehnen marktliberale Positionen vor allem deshalb so vehement ab, weil ihr Glaube an die Wunderkräfte der Sozialen Marktwirtschaft zerrüttet ist. Während in den Wirtschaftswunderjahren der jungen Republik die Mittelstandsgesellschaft als Ziel jeder Sozialpolitik galt, herrscht im 21. Jahrhundert Ernüchterung. Nicht nur, dass sich durch die chronische Massenarbeitslosigkeit eine breite Unterschicht gebildet hat: Auch franst die Mittelschicht an ihren Rändern aus. Die Kaufkraft sinkt durch stagnierende Gehälter, gleichzeitig werden ehemals sichere Erwerbsbiographien zur Glückssache. Allein eine kleine Oberschicht, so sieht es die große Mehrheit der Deutschen, kann derzeit ihren Wohlstand weiter mehren.

Kein Wunder, dass der explosionsartige Anstieg der Manager-Gehälter, obwohl volkswirtschaftlich unbedeutend, zum gesellschaftlichen Thema mit hoher Symbol- und Sprengkraft geworden ist. Die Hinwendung der Deutschen zum Staat hat aber weniger mit Neid, als vielmehr mit der Furcht vor dem Abstieg zu tun. Weil die Globalisierung Unbehagen weckt und die tägliche Erfahrung mit der Realität Ängste schürt, suchen die Bundesbürger Schutz beim Staat.

Und die Politik hat längst begriffen. Union, SPD und Grüne vollziehen einen Linksruck, weil sie wissen, dass sie ohne Rückhalt in der Bevölkerung nur verlieren können. Im August brachte es eine Emnid-Umfrage an den Tag: Das Land ist unmerklich nach links gerückt, in vielen Fragen gibt es linke Mehrheiten - und das in allen Parteien. So befürworten selbst 68 Prozent der FDP-Wähler die Einführung eines Mindestlohns.

Sozialesysteme Höchste Priorität sollten aus Sicht der Bevölkerung Reformen der sozialen Sicherungssysteme haben. 81Prozent der Befragten sehen den Schlüssel zur Generationengerechtigkeit in der Reform des Renten- und Gesundheitssystems.

Bildung Trotz der Diskussion über die geringen Zugangschancen von sozial benachteiligten Kindern zur höheren Schulbildung hält nur etwa ein Drittel der Bevölkerung die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems für sinnvoll. Auch eine Erleichterung des Übergangs von der Haupt- über die Realschule zum Gymnasium wird nur von einem Drittel der Befragten als erstrebenswert gesehen. 81Prozent hingegen fordern eine Ausbildungsplatz-Garantie für alle Schulabgänger.