Gelöste Stimmung nach langer Nacht
Die politischen Gegner sind sich in den langen Stunden der Koalitionsgespräche näher gekommen. Doch nun heißt es: Abwarten.
Berlin. Sie duzen sich noch nicht. Horst Seehofer, CSU-Chef, hat da einen klitzekleinen Vorbehalt: „Ich kann mir das vorstellen, wenn er den Mitgliederentscheid gewonnen hat“, sagt er bei der Pressekonferenz zur Präsentation des gemeinsamen Koalitionsvertrages. Gemeint ist SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Das SPD-Basisvotum ist der Wermutstropfen, der den Tag danach noch vergällt — nach der glücklichen Einigung früh morgens um halb sechs, nach der feierlichen Unterschrift um genau fünf vor zwölf unter der Reichstagskuppel. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt Gabriel seinen künftigen Partnern. „Ich kenne meinen Laden ganz gut“.
Angela Merkel hat kein Problem mit dem Verfahren der SPD. „Warten kann ich“, sagt sie. Außerdem hat sie ein grünes Jackett an, vielleicht als Warnzeichen, dass sie nicht nur warten, sondern auch anders kann.
Schon um zehn Uhr haben alle SPD-Mitglieder von ihrem Vorsitzenden eine Mail mit dem Vertragswerk erhalten. Botschaft: Die SPD habe alle zehn zentralen Punkte durchgesetzt. „Jetzt bist Du am Zug“. Was nicht durchgesetzt wurde, Steuererhöhungen etwa oder die Abschaffung des Betreuungsgeldes, steht nicht in der Mail.
Der Koalitionsvertrag ist rekordverdächtige 185 Seiten dick geworden. Und doch fehlt noch immer ein ganzes Kapitel: die Verteilung der Ministerien. Man habe die SPD-Abstimmung nicht mit der Debatte über Personen verengen wollen, erläutert Gabriel. Aber er ist nicht ganz glücklich darüber, dass Merkel gleich zu Beginn der Pressekonferenz verrät, die drei Parteichefs hätten sich unter sechs Augen sehr wohl damit beschäftigt. Jetzt wird auch in seiner Partei der Druck wachsen, mit der Wahrheit über die geheimen Verabredungen herauszurücken. Etwa, ob ein Sozialdemokrat Finanzminister wird.
Gabriels Vortrag auf der Pressekonferenz ist eine Art Werbeblock für die eigenen Mitglieder, der in der Feststellung gipfelt, dies sei eine „große Koalition für die kleinen Leute“. Den Doppelpass lobt er als „Tabubruch für die Union“ und dankt Merkel und Seehofer „für den Mut“. Der Kompromiss zum Mindestlohn sei identisch mit der Position der Gewerkschaften. In der SPD-Delegation sei das Paket einstimmig gebilligt worden, sagt Gabriel und lobt noch einmal: „Das war ’ne faire Veranstaltung“.
Diese Veranstaltung dauert 17 Stunden, von Dienstagmittag an. Der Reihe nach arbeitet man die Themen ab, Arbeitsmarkt, Rente, Gesundheit. Erst gegen vier Uhr am Mittwochmorgen ist die letzte Frage gelöst, der Doppelpass. Meist tagt die kleine Runde oder, wie nach Mitternacht, sogar nur der Kreis der drei Parteivorsitzenden. Alle anderen müssen warten, bis sie zur Endabstimmung gerufen werden. Sie streunen immer müder über die Flure des Willy-Brandt-Hauses, essen Bouletten und Kartoffelsalat oder senden per Twitter Fotos nach draußen, auf denen man veritable Minister auf Treppenstufen hocken sieht. Einige gucken gemeinsam Champions League, sogar die Wiederholung. Man kommt sich näher. „Für den menschlichen Zusammenhalt der Koalition war das die bedeutsamste Nacht“, schwärmt CDU-Mann Peter Hintze hinterher. Am frühen Morgen dann schickt jemand die erlösende Nachricht: „Knoten durch! Einigung erreicht“. Angela Merkel meidet in der Pressekonferenz jede Triumph-Äußerung. Sie referiert sogar sozialdemokratische Ideen wie den Mindestlohn oder die abschlagsfreie Rente, als seien es ihre eigenen. Der Eindruck: eine überzeugte Großkoalitionärin.