Tiefe Risse in der rot-grünen Idylle
Die geplatzten Verhandlungen in Berlin sorgen für Zündstoff.
Berlin. 1969 tourte Günter Grass sechs Monate in einem VW-Campingbus für die SPD durch das Land. 32 000 Kilometer legte er zurück und besuchte 79 Wahlkreise. Der spätere Literaturnobelpreisträger legte sich damals mächtig ins Zeug, damit die Menschen Willy Brandt wählten.
42,7 Prozent bildeten die Basis dafür, dass die erste sozial-liberale Koalition gebildet werden konnte. Heute wird Sigmar Gabriel mit Grass noch einmal in der SPD-Zentrale — im Willy-Brandt-Haus — in den alten Zeiten schwelgen, wenn ein Buch über die legendäre Wahlkampfreise vorgestellt wird.
Die Gegenwart sieht für die SPD nüchterner aus. Mit dem Scheitern des von der Bundes-SPD erhofften Bündnisses mit den Grünen in Berlin droht auch im Bund eine Entfremdung — und Umfragen sehen die bis vor kurzem noch satte Mehrheit für Rot-Grün schmelzen.
Daher ist man im Willy-Brandt-Haus bemüht, die schrillen Töne von Grünen-Fraktionschefin Renate Künast als Einzelmeinung abzutun. „Ich bin mir sicher, kein Grüner wird das der SPD vergessen“, hatte Künast gesagt.
Doch ob es hilfreich ist, wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel den Grünen mehr Realismus bei Infrastrukturprojekten empfiehlt, darf bezweifelt werden. Die Grünen wollen sich nicht mehr wie früher von der SPD abbürsten lassen und eigene Überzeugungen wie ein Nein gegen das bundesweit teuerste Stück Autobahn in Berlin für die Macht opfern.
Mit dem Basta von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit verfiel die SPD in alte Zeiten, dabei trennen beide Parteien heute nicht mehr 30 Prozentpunkte, sondern meist nur noch zehn Punkte — oder die Grünen geben sogar den Ton an wie in Baden-Württemberg.
1998 hatten sich die Grünen um Joschka Fischer und Jürgen Trittin nach dem historischen Wahlsieg vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder mit den berühmten Worten vom Koch und Kellner abkanzeln lassen müssen.
Trotz der Grünen-Demütigung sind die Bundesspitzen beider Seiten bemüht, den Abbruch der Berliner Gespräche kleinzureden — in NRW etwa läuft das Bündnis recht harmonisch. Auf die nächste Bundestagswahl 2013 werde sich das Berliner Zerwürfnis — so die Hoffnungen — keineswegs auswirken.
Das Ziel lautet weiterhin: Schwarz-Gelb durch Rot-Grün ablösen. Doch wenn es jetzt in Berlin Rot-Schwarz gibt, gäbe es 2013 keine Bundesratsmehrheit für SPD und Grüne.