AfD-Erfolg im Osten Zwei Köpfe, zwei Meinungen: Die deutsche Ost-West-Frage

Der Erfolg der AfD im Osten ist ein Einschnitt. Die deutsche Ost-West-Frage keimt wieder auf. Der Westen blickt fassungslos nach Neufünfland, doch muss man den Osten überhaupt verstehen? Zwei Meinungen aus Ost und West.

 Ein Wahlplakat der AfD hängt an einem Mast in Hirschfeld im Landkreis Elbe-Elster. Das Wahlergebnis in Sachsen und Brandenburg lässt die Ost-West-Frage wieder hochkochen.

Ein Wahlplakat der AfD hängt an einem Mast in Hirschfeld im Landkreis Elbe-Elster. Das Wahlergebnis in Sachsen und Brandenburg lässt die Ost-West-Frage wieder hochkochen.

Foto: dpa/Patrick Pleul

Analyse I Von Stefan Vetter

Wieder einmal schaut der Westen fassungslos nach Neufünfland. Doch worüber wundern sich die Wessis eigentlich?

 Stefan Vetter

Stefan Vetter

Foto: k r o h n f o t o . d e

Wieder einmal schaut der Westen fassungslos nach Neufünfland. Die letzte große Empörungswelle war in den 1990er Jahren über den Osten geschwappt, als dort gegen alle Warnungen vor den „Roten Socken“ stramm links gewählt wurde. Warum die Ossis das taten, war kaum ein Thema. Mit der Westwerdung der PDS geriet dann allerdings auch ihre Funktion als Protestpartei und ostdeutscher Kummerkasten unter die Räder. Diese Lücke füllt jetzt die AfD. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hat ungefähr jeder Vierte seine Stimme den Rechten gegeben. Beinah genauso viele, wie die Linken dort in ihren besten Zeiten hinter sich hatten. Nun ist vom braunen Osten die Rede. Typisch Westen.

Anstatt darüber zu sinnieren, was mit den Ossis los ist, könnte man sich ja auch mal fragen, was eigentlich mit den sogenannten Volksparteien Union und SPD los ist. Offenkundig haben sie den Draht zu großen Teilen des Volkes verloren. Im Osten weit stärker als im Westen. Und die AfD hat diesen Nerv getroffen. Nicht nur bei solchen Ossis, die schon immer rechtsextrem waren, sondern vor allem bei Nichtwählern. Die Wahlbeteiligung ist jedenfalls enorm gestiegen. Der Osten ist so politisiert wie seit der Wende nicht mehr. Das ist eigentlich ein Erfolg der Demokratie.

Mehr noch als die Wahlergebnisse sollten die demoskopischen Befunde im Umfeld der jüngsten Urnengänge aufrütteln. 59 Prozent der Brandenburger stimmen der Aussage zu, dass Ostdeutsche Bürger zweiter Klasse sind. Unter den Sachsen sind es sogar 66 Prozent. Das hat auch noch mit der Wendezeit zu tun. In der alten Bundesrepublik ging die Einführung der Demokratie mit dem Wirtschaftswunder einher, in Ostdeutschland mit einer dramatischen Deindustrialisierung. Allein von den gut vier Millionen Arbeitsplätzen unter Treuhand-Aufsicht blieben binnen 20 Monaten nur 1,2 Millionen übrig. Von diesem Turbowandel hat sich der Osten trotz aller Fördermilliarden bis heute nicht erholt. 30 Jahre nach der Einheit sind Löhne und Wirtschaftskraft immer noch geringer und das Rentenrecht nach wie vor zweigeteilt. Das sitzt tief in ostdeutschen Köpfen. Genauso wie die pauschale Verteufelung von DDR-Errungenschaften. Nur zwei Beispiele: Nach der Wende wurden die „Polikliniken“ abgeschafft. Jetzt sind das „Ärztehäuser“. Die Kindergärten wurden als kollektives Töpfchensitzen gebrandmarkt. Heute sind Kitas ganz normal. Im besten Fall wundert sich der Ossi, viele fühlen sich aber auch gedemütigt und frustriert. Ob die Befindlichkeiten im Westen bei gleichem Erfahrungshorizont so viel anders wären? Wohl kaum.

Das alles und noch viel mehr ist sicher keine Entschuldigung, AfD zu wählen, aber zumindest ein Teil der Erklärung. Übrigens: Ihre Galionsfiguren kommen allesamt aus dem Westen, von Höcke über Kalbitz bis Gauland. Könnte man auch mal drüber nachdenken.

Der Autor ist gebürtiger Sachse

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Analyse II von Werner Kolhoff

Jetzt wird überall versucht, den Osten zu verstehen. Muss man das? Was bilden sich die Ossis eigentlich ein?

 Werner Kolhoff.

Werner Kolhoff.

Foto: nn

Jeder Vierte hat am Sonntag AfD gewählt. Jetzt wird überall versucht, den Osten zu verstehen. Muss man das? Vielleicht muss man den Leuten dort einfach mal ein paar unangenehme Fragen stellen. Voilà:

Ihr wählt Protest. In den Nachwendejahren war das nachvollziehbar, alles war den Bach runtergegangen. Aber wogegen protestiert ihr heute? Dass bei euch Dörfer und Städte in Randregionen veröden? Dagegen würde es mehr helfen, Zugereiste mit Freude im Gesicht, Neugier und Offenheit zu empfangen. Was nicht gerade eure Spezialität ist. Dann kämen vielleicht auch ein paar Investoren. Seit der Wende sind zwei Billionen Euro in den Osten geflossen. Die Tschechen und Polen hatten das nicht. Und jammern viel weniger.

Ihr glorifiziert euer untergegangenes Land. Mauer, Stacheldraht, Stasi, alles schon vergessen? Oh ja, es war nicht alles schlecht. Der Zusammenhalt, die niedrigen Mieten, die Kinderbetreuung. Aber warum wollten bloß so viele fliehen damals? Und warum habt ihr eurem Staat auch nach dem Mauerfall keine Chance gegeben, als es möglich gewesen wäre. Wolltet ihr eigentlich nur einen Sozialismus mit Westmark?

Protest wählen, das ginge ja noch. Aber ihr wählt Rechts, richtige Rassisten. Ihr wählt die schmierige Höcke-AfD, Leute mit übler Vergangenheit. Die Anführer sind Wessis, die in den alten Ländern keine Resonanz gefunden haben, weil ihre Parolen zu dumpf sind. Und euch jetzt was von „Vollende die Wende“ erzählen. Habt ihr nicht gewusst, dass die Bundesrepublik, mit der ihr wiedervereinigt werden wolltet, ein westliches, offenes und liberales Land ist? Eine Demokratie, die vom Mitmachen ihrer Bürger und von Toleranz lebt? Wollt ihr ernsthaft sagen, ihre habt nie Westfernsehen geguckt? Wärt ihr eigentlich lieber mit einem ganz anderen Land wiedervereinigt? Mit Russland vielleicht? Oder Ungarn?

Was habt ihr gegen Ausländer? Und gegen Flüchtlinge? Kennt ihr überhaupt welche? Persönlich? Wo ist eure Empathie? Empathie bedeutet die Fähigkeit, nachzufühlen was andere empfinden. Die müsstet ihr haben. Denn viele von euch sind 1989 und davor selbst auf der Flucht gewesen. Die Züge, die Notaufnahmelager, alles vergessen? Auch, dass es im Westen damals Leute gab, die die Übersiedler „Zonies“ oder „Polacken“ nannten und nicht mochten? Diese Leute hießen zwar nicht AfD, sondern Republikaner, sind aber das gleiche gewesen. Oft übrigens auch die Gleichen.

Und wenn ihr schon keine Empathie habt, wo ist dann wenigstens euer Geschichtsbewusstsein? Wisst ihr nicht, dass das Herumhacken auf Fremden, Minderheiten und Andersgläubigen ungefähr das Dümmste ist, was die Menschheit je hervorgebracht hat? Und das Zweitdümmste, solche Leute zu wählen, die das tun. Hattet ihr das nicht in der Schule?

Ihr solltet dringend etwas mehr nachdenken.

Der Autor ist gebürtiger Niedersachse