Angst vor Selbstmord-Welle
Strafvollzug: Der Verteidiger kann sich den Suizid seines Mandanten Nico Z. nicht erklären. Was den Verantwortlichen Sorge bereitet, ist das durch wissenschaftliche Studien belegte Phänomen, dass Suizide, über die in den Medien ausführlich berichtet wird, Nachahmungstaten auslösen.
Siegburg/Mönchengladbach. Die Selbsttötungen in der Justizvollzugsanstalt Siegburg lassen bei den Experten alle Alarmglocken schrillen. Sie befürchten eine Welle von Nachahmungshandlungen. NRW-Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU): "Wir haben gemeinsam überlegt, was wir tun können, um in dieser Anstalt Nachahmungshandlungen zu verhindern."
Was den Verantwortlichen Sorge bereitet, ist der so genannte "Werther-Effekt". Damit bezeichnen Psychologen das durch wissenschaftliche Studien belegte Phänomen, dass Suizide, über die in den Medien ausführlich berichtet wird, eine hohe Zahl von Nachahmungstaten auslösen.
Der Begriff geht zurück auf das erstmals beobachtete Auftreten einer Freitod-Welle nach der Veröffentlichung von Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers" im Jahr 1774. Im modernen Deutschland wurde der "Werther-Effekt" 1981 von zwei Psychologen im Zusammenhang mit dem mehrteiligen ZDF-Film "Tod eines Schülers" nachgewiesen. Während der Ausstrahlung der Serie nahm die Suizidrate unter 15- bis 19-jährigen männlichen Schülern im Vergleich zu den Jahren davor und danach um 175 Prozent zu.
Auch bei den Selbsttötungen in Siegburg gibt es auffallende Gemeinsamkeiten: Beide jungen Gefangenen waren in Einzelzellen untergebracht, beide wählten den Freitod durch Erhängen, beide hinterließen Abschiedsbriefe.
Justizministerin Müller-Piepenkötter hat deshalb mehrere Sofortmaßnahmen angeordnet, die weitere Suizide verhindern sollen: Ein Spezialisten-Team für "posttraumatische Belastungsstörungen" betreut bereits die Gefangenen, außerdem nahm gestern in Siegburg eine weitere Psychologin ihren Dienst auf - zusätzlich zu den dort bereits beschäftigten sieben Psychologinnen und Psychologen. Außerdem sollen noch zwei weitere Psychologen für eine befristete Zeit dort Dienst tun.
Für den Verteidiger von Nico Z., Rechtsanwalt Michael Rost, der durch unsere Zeitung vom Tod seines Mandanten erfuhr, ist der Suizid "völlig unerklärlich". Er habe noch vor knapp zwei Wochen ein längeres Gespräch mit Nico gehabt.
Dabei habe es keinerlei Hinweise auf Suizid-Absichten gegeben, sagt Rost: "Im Gegenteil, die Kurve seiner psychischen Verfassung ging sogar nach oben." Nico habe ihm gesagt, dass er während der Haft sein Abitur machen wolle und deshalb eine Verlegung in die JVA Münster anstrebe, weil es in NRW nur dort entsprechende Angebote für Gefangene gebe.
Die Haftanstalt in Münster sei zwar ausschließlich mit Erwachsenen belegt, doch dies sei seinem Mandanten egal gewesen, sagt Rost. Dass eine beim Bundesgerichtshof eingelegte Revision gegen das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach offenbar keine Chance hatte und zurückgezogen wurde, spielte nach Ansicht Rosts keine Rolle als mögliches Selbstmord-Motiv.
Rost: "Die Zurücknahme geschah sogar auf Wunsch von Nico. Er wollte nicht noch einmal vor Gericht, sondern mit der Tat auch für sich abschließen und seine Strafe annehmen."