Die Flakhelfer-Generation: Als die Waffen-SS Zwölfjährige holte
Jugend im NS-Staat: Die Debatte um Walser, Lenz und Hildebrandt ruft die Zeitzeugen auf den Plan: Eine Generation erinnert sich.
Düsseldorf. Die Debatte um die angebliche NSDAP-Mitgliedschaft von Martin Walser, Siegfried Lenz und Dieter Hildebrandt ist nicht nur ein Streit um den Aussagewert von Karteikarten. Sie rückt auch die Generation der zu Kriegsende 15- bis 17-Jährigen ins Blickfeld: die Flakhelfer-Generation. Als Jugendliche ins Untergangsinferno des Dritten Reiches geworfen, melden sich auch jetzt noch immer Leser unserer Zeitung, die als Zeitzeugen den Zusammenbruch Deutschlands aus eigenem Erleben schildern. Und dabei ein Schlaglicht auf die damaligen Verhältnisse werfen, die von einer "normalen" Jugend, wie wir Nachgeborenen sie kennen, kaum zu sprechen erlauben. So wie der Düsseldorfer Karl Günther Schultze, der noch im Januar 1945 als Zwölfjähriger zum "Kriegsfreiwilligen" in der Waffen-SS-Division "Großdeutschland" wurde.
Und das kam so: In Düsseldorf ausgebombt, wurde Karl Günther Schultze zusammen mit seiner Mutter nach Altstädten im Allgäu evakuiert. Vater Schultze diente als Soldat an der Front. In Altstädten besuchte der im November 1932 geborene Karl Günther die Oberrealschule. Gemeinsam mit rund 50 Jugendlichen, alle im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren, wurde der Düsseldorfer im Januar 1945 zu einer Schulung auf die NSDAP-Führungsschule Bachhagel bei Ulm einberufen.
"Ich war der Benjamin", erinnert sich Schultze. Ausbilder waren verwundete und deshalb nicht einsatzfähige Wehrmachtsangehörige oder Soldaten der Waffen-SS. Nachts zog der junge Schultze mit Generalstabskarte, Taschenlampe und Kompass durchs Gelände, tagsüber stand die Ausbildung am Karabiner auf dem Programm. Das dauerte einige Wochen. "Am Ende trat das gesamte Lager an und meldete sich geschlossen als Kriegsfreiwillige zur Waffen-SS, Divison Großdeutschland". Karl Günther Schultze, damals zwölf Jahre und zwei Monate alt, erhielt am 20. Januar 1945 ein Papier über die Aufnahme, ein rotes Wollbändchen über die Achselklappe der Winteruniformbluse und eine Widmung im Propaganda-Heft "Sigrunen und Edelweiß" des "Ergänzungsamtes der Waffen-SS, Außenstelle Augsburg".
"Als ich nach Hause kam, hat mir meine Mutter erst mal eine gescheuert", erinnert sich Schultze. Stolz hatte der Zwölfjährige zuvor der Mutter die mit Bändchen rot geschmückte Uniform vorgeführt und gefragt: "Na, kannst Du da was erkennen?" Als die Mutter das rote Band ignorierte, zeigte er das Papier mit der SS-Aufnahme. Und da setzte es die Ohrfeige. Die Mutter zerriss auch das Papier, so dass dem Düsseldorfer heute als Beleg für diese "Absurdität" (Schultze) nur die unten abgedruckte Widmung blieb. "Aber wenn da heute jemand eine Karte findet, dann sind Sie dran", glaubt Schultze nach den Erfahrungen von Walser, Lenz oder Hildebrandt.
Später, als Gymnasiallehrer bis zu seiner Pensionierung als stellvertretender Schulleiter am Comenius-Gymnasium in Düsseldorf, nutzte er diese Episode aus den letzten Kriegswochen zum Unterricht in der Quarta. Seine Schüler waren dann ebenso alt wie Schultze, als er in die SS übernommen wurde: zwölf Jahre.
"Was hätten wir als 16-Jährige damals tun können? Was wissen die Nachgeborenen von unseren Nöten, im Krieg zu überleben?", fragt Hans-Jürgen Schwidrowski. Schwidrowski, im September 1928 geboren, wurde Anfang 1944 15-jährig als Marine-Helfer auf Borkum eingezogen. Eine Reihe von 10,5-Flak-Geschützen mit Panzerkuppel waren die Waffen, an denen sie eingesetzt wurden. Alle seine Kameraden waren Gymnasiasten wie er selbst. Der spätere Wuppertaler, der nach seiner Pensionierung in München lebt, kam aus Crossen/Oder im heutigen Polen nach Borkum.
Schwidrowski erinnert sich, dass er und seine Kameraden als Marine-Helfer das Tragen von HJ-Uniformen ablehnten. Selbst das Tragen von HJ-Armbinden auf der Wehrmachtsuniform wurde von den Jugendlichen verweigert. "Wir fühlten uns als Soldaten", so der Wuppertaler, dessen Kriegseinsatz ihn dann im Frühjahr 1945 noch in den "Endkampf" um Hitlers Reichskanzlei ins eingeschlossene Berlin führte. Als "Melder" wurde der damals 16-Jährige in den Straßenkämpfen um die Reichskanzlei schwer verwundet, gehört aber zu wenigen, die diese sinnlose letzte Schlacht des Dritten Reiches überlebten.
Es sei leicht, jetzt - 63 Jahre danach - über diese Jugend, die im Untergangskampf des zusammenbrechenden Nazi-Reichs verheizt wurde, zu urteilen, betont der Wuppertaler. Dass am 20. April 1944, zu Hitlers 55. Geburtstag also, "ganze Hitlerjugendeinheiten zur NSDAP überführt wurden", sei unbestritten. In vielen Fällen hätten die Betroffenen weder eine Mitteilung darüber erhalten, noch wurde von ihnen eine Unterschrift verlangt.
Dr. Wolfgang Störkmann aus Krefeld, selbst Flakhelfer, erinnert sich:
Februar 1943, 15-jährig, in der Untersekunda des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums in Krefeld, wurde ich mit 16 Klassenkameraden Luftwaffenhelfer und verteidigte Krefeld gegen "Terrorbomber" in einer Scheinwerferstellung am Silbersee bei Niep, dann mit 8,8-Flakgeschützen auf dem Benrader Feld, irgendwo auf einem Acker bei Rumeln-Kaldenhausen, bei Fürstenwalde südlich von Berlin und bei Pölitz, Nähe Stettin.
1944 trug eines Tages einer von uns das Parteiabzeichen. Wir fragten: "Mensch, wie kannst Du jetzt noch in die Partei eintreten?" Er antwortete: "Dann kann ich später sagen, ich bin in der größten Krisenzeit eingetreten. Das ist gut." Oktober 1945 sahen wir uns wieder im Abiturlehrgang unseres lieben alten Gymnasiums. Wir fragten: "Na, was machste nun mit der Partei?" Er antwortete: "Ich war nie in der Partei, ich hab’ nur mal ’nen Antrag gestellt."
Hans-Heinrich Plette, ebenfalls aus Krefeld, schreibt:
Man fragt sich, warum es heute noch nötig ist, die Geburtsjahrgänge 1927 und 1928 davon reinzuwaschen, was möglicherweise kollektiv 1944/45 mit ihnen gemacht worden ist. Eine wie auch immer erzwungene NSDAP-Mitgliedschaft von damals 15- bis 17-Jährigen kann doch niemanden ernsthaft aufregen. Auch dann nicht, wenn diese Jugendlichen so bekannte Namen wie Walser, Lenz und Hildebrandt tragen.
Mit Jahrgang 1928 gehörte ich ebenfalls zur Flakhelfergeneration. Nach elf Monaten Einsatz in Mitteldeutschland folgten fünf Monate Westfront. Dafür wurde eine ähnliche kollektive Veränderung befohlen: Wir Luftwaffenhelfer (LHW), wie wir offiziell hießen, mussten 1945 alle unsere Hitler-Jugend-Armbinden abgeben. Zu sehen sind sie auf dem historischen Foto auf der Titelseite (siehe auch Bild oben). Wir waren nicht mehr Wehrmachtsgefolge, sondern wurden automatisch Wehrmachtsangehörige, als die wir dann auch zum Fronteinsatz geschickt werden konnten.