Experten kritisieren Gesetzentwurf: So kann Inklusion nicht gelingen
Um Inklusion an Schulen umzusetzen, mangelt es in NRW an Personal, Fachwissen, Geld und Ausstattung. Das sagen Experten in einer Anhörung im Landtag. Dem Gesetzentwurf der rot-grünen Regierung geben sie schlechte Noten.
Düsseldorf (dpa). Für ein „inklusives“, gemeinsames Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern an Regelschulen fehlen nach Einschätzung zahlreicher Experten noch viele Voraussetzungen.
Damit Inklusion gelingen könne, seien mehr Personal, systematische Fortbildung, kleinere Klassen und finanzielle Unterstützung nötig. Das forderten Vertreter von Schulen, Lehrern, Eltern, Kirchen, Sozialverbänden und Gewerkschaften am Mittwoch im Düsseldorfer Landtag in einer Sachverständigen-Anhörung. Der Gesetzentwurf der rot-grünen Landesregierung zur Inklusion wurde von der großen Mehrheit als lückenhaft und unzureichend kritisiert.
Die Klassengröße von 20 bis 24 Kindern sollte für ein inklusives Lernen - bei einer Pädagogen-Doppelbesetzung - nicht überschritten werden, sagte Behrend Heeren von der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) nannte 24 Kinder ebenfalls als Obergrenze. Es gebe auch einzelne Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an allgemeinen Schulen nicht richtig aufgehoben seien, meinte Heeren. Diese könnten von Förderlehrern in Unterstützungszentren unterrichtet werden, die wiederum an Regelschulen angeschlossen würden.
Bildungsforscher Klaus Klemm sprach sich - „bei allem Verständnis für das Wahlrecht der Eltern“ - gegen dauerhafte Doppelstrukturen aus. Er befürchte negative Folgen für beide Lernorte - Förderschule und Regelschule, betonte Klemm. Die heute schon oft sehr kleinen Förderschulen werden weiter schrumpfen, wenn viele Eltern für ihre behinderten Kinder eine Regelschule wählen.
Die Förderschulen würden zur Qualitätssicherung aber weiter in hohem Maße Ressourcen binden, die an den allgemeinen Schulen fehlten. Die Messlatte für Inklusion müsse die hohe Qualität der Förderschulen sein, forderte Jochen-Peter Wirths. Der Verband der Eltern sprachbehinderter Kinder sehe nun aber mit Sorge ein „qualitatives Minus“ heraufziehen.
Als Vorsitzende der Gewerkschaft GEW bemängelte Dorothea Schäfer, dass im Gesetzentwurf jegliche Qualitätsstandards für inklusiven Unterricht fehlten. Inklusion müsse zentral gesteuert und gut organisiert werden, statt sie dem „Wildwuchs“ zu überlassen. Es gebe an den Schulen große Bedenken, dass es bei Vorbereitung und Fortbildung keine ausreichende Unterstützung vom Land geben werde.
Scharfe Kritik kam von der Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen: Der Gesetzentwurf bringe gar nichts in Richtung Inklusion ins Rollen, sondern bedeute nur „Stagnation“. Auch der VBE meinte, so werde Inklusion nicht gelingen. Fast alle Redner forderten eine Doppelbesetzung für inklusive Lerngruppen und bemängelten, dass es nicht genug Fachkräfte an den allgemeinen Schulen für die anstehenden großen Herausforderungen gebe.
Der Verband Lehrer NRW forderte eine umfassende landesweite Fortbildung. Es helfe nicht, „wenn mal für einen Tag ein Sonderschullehrer vorbeikommt“ oder einzelne Lehrer einen Kurs absolvierten, betonte die Vorsitzende Brigitte Balbach. Lehrkräfte an den allgemeinen Schulen fühlten sich alleingelassen mit ihren „Ängsten und Problemen“. Das gelte auch für die Kommunen: Das Land dürfe die Inklusionskosten nicht auf Städte und Gemeinden abschieben.
Die Anhörung kreiste auch um die Frage, ob sich die Gymnasien der Inklusionspflicht entziehen. Konrad Großmann von der Rheinischen Direktorenvereinigung betonte, die Gymnasien stellten sich seit längerem ihrer Mitverantwortung. Aber: „Mehrfachbehinderte, sozial und emotional gestörte Kinder können in Gymnasien nicht zieldifferent unterrichtet werden.“ Das sei keine Ausgrenzung. Gymnasialschüler bräuchten die Sicherheit, dass sich die Lernqualität mit der Inklusion nicht verschlechtere, sagte Ralf Leisner als Elternvertreter.
Solange das Land aber keine Standards bei Qualität und Personalausstattung setze, „wird es schwierig mit der Akzeptanz.“ Gymnasien dürften keine „closed shops“ sein, entgegnete Eva-Maria Thoms vom Verein Mittendrin. Mehrere Sachverständige verlangten, dass neben Eltern auch die Schulen früh die Möglichkeit benötigten, einen Antrag zur Feststellung eines sonderpädagogischen Bedarfs stellen zu können.
Um nicht zu einer „Negativ-Etikettierung“ zu kommen, sei eine Diagnostik für alle Schüler denkbar, sagte Heeren. Die Regierung hatte im April ihren Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Er sieht für behinderte Kinder ab dem Schuljahr 2014/15 schrittweise einen Rechtsanspruch auf gemeinsamen Unterricht mit Nichtbehinderten in einer allgemeinen Schule vor.