Kölner Silvesternacht: Das sagt der Gutachter
In seiner Expertise für den Landtag kommt der Rechtspsychologe Rudolf Egg zu dem Ergebnis: Die Polizei hätte die Massen-Übergriffe verhindern können. Diese waren nicht geplant. Sie fanden statt, weil niemand eingriff. Wir dokumentieren die Zusammenfassung des Gutachtens in gekürzter Form:
Köln. „Die Frage nach der Typologie der begangenen Straftaten und der Aspekt eines eventuellen organisierten Vorgehens der Täter ist der Kernpunkt des hier vorliegenden Gutachtenauftrags. Die mögliche Organisation der Täter war bereits wenige Tage nach den Ereignissen Gegenstand öffentlicher Mutmaßungen. So äußerte sich Bundesjustizminister Heiko Maas am 10.01.2016 gegenüber der Zeitung „Bild am Sonntag“ wie folgt: „Wenn sich eine solche Horde trifft, um Straftaten zu begehen, scheint das in irgendeiner Form geplant worden zu sein. Niemand kann mir erzählen, dass das nicht abgestimmt oder vorbereitet wurde.“
Eine erschöpfende kriminologische Analyse des Tatgeschehens in der Kölner Silvesternacht kann indes ausschließlich auf der Grundlage der hier ausgewerteten Strafanzeigen nicht geleistet werden. (. . .) Die nachfolgenden Ausführungen sind daher lediglich als hypothesenartige vorläufige Antworten zu verstehen, die sich nach dem Eindruck des Sachverständigen aus den ausgewerteten Strafanzeigen ergeben, für deren weitere Klärung aber zusätzliche Erhebungen und Informationen notwendig wären. Der Sachverständige kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:
(. . .) Es handelte sich um zahlreiche, zumeist überfallartige sexuelle Belästigungen und Eigentumsdelikte innerhalb und außerhalb des Kölner Hauptbahnhofs und angrenzender Örtlichkeiten, begangen durch Männer verschiedene Altersgruppen, die weit überwiegend aus nordafrikanischen und/oder arabischen Ländern stammten. Geschädigte waren vor allem Frauen - bei den Eigentumsdelikten überwiegend und bei den Sexualdelikten ausschließlich. Diese erlebten die Taten und die gesamte Situation vor Ort meist als sehr bedrohlich und beängstigend. Besonders unangenehm wurden die Hilflosigkeit bzw. das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber den vielen Tätern erlebt. (. . .)
Die Männer, aus deren Reihen die zahlreichen Straftaten dieser Nacht verübt wurden, hatten sich dagegen alle im Bereich des Bahnhofs versammelt, um dort zu bleiben und den Jahreswechsel zu verbringen. (. . .) Daraus ergibt sich die naheliegende Frage, wieso sich überhaupt eine so große Zahl von mutmaßlich nordafrikanischen/arabischen Männern am Silvesterabend in Köln im Bereich des Hauptbahnhofs versammelt hatte.
Die Strafanzeigen der Ermittlungsgruppe Neujahr geben auf diese Frage naturgemäß keine Antwort. Woher sollten die Geschädigten auch wissen, weshalb sich diese Männer dort versammelt hatten? Eine rein zufällige, von vornherein nicht beabsichtigte Begegnung der Männer wird man vernünftigerweise ausschließen können. Dafür waren zu viele Männer zur selben Zeit am selben Ort. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass es im Vorfeld der Ereignisse irgendeine Form der Verabredung oder Absprache gegeben hat, die mehrere Hundert Männer aus dem nordafrikanischen Raum veranlasst hat, den Silvesterabend 2015 im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs zu verbringen. (. . .) Doch welchem Zweck sollte dieses Treffen dienen? Waren die zahlreichen Straftaten denn alle von vornherein geplant oder entwickelten sich diese erst im Laufe der Nacht im Sinne einer „sozialen Ansteckung“? Und ging es dabei primär um Diebstahl und Raub oder vor allem um die sexuelle Belästigung von Frauen?
(. . .) Aus kriminologischer Sicht wäre es jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass sich in dieser Nacht Hunderte von Männern ausschließlich deshalb zu einem Treffen vor dem Kölner Hauptbahnhof verabredet hatten, um dort von Anfang an geplant und unter Ausnutzung der allgemeinen Silvesterfeierlichkeiten massenhaft Eigentums- und Sexualdelikte zu begehen. Der logistische bzw. organisatorische Aufwand einer solchen „Einladung“ oder besser Verabredung zu Straftaten wäre sehr erheblich gewesen und hätte sicherlich Spuren hinterlassen, die man zumindest im Nachgang der Ereignisse hätte feststellen können, etwa durch die Auswertung von Mitteilungen in sozialen Netzwerken. (. . .) Der Sachverständige vermutet daher, dass es zwar in den entsprechenden Personenkreisen allgemeine Einladung zur Teilnahme an einem Treffen vor dem Kölner Hauptbahnhof gegeben hat, dass dies aber für die Mehrzahl der Teilnehmer nicht von Beginn an mit der festen Absicht zur Begehung von Straftaten verbunden war. Vielmehr könnte es unterschiedliche Teilgruppen gegeben haben, z.B.: - Männer, die lediglich mit vielen anderen Personen mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund, den Jahreswechsel (mit Alkohol, Feuerwerkskörpern etc.) feiern wollten, ohne dafür viel Geld auszugeben, aber auch ohne die Absicht, dabei Straftaten zu begehen, - Männer, die neugierig darauf waren zu sehen, was geschieht, wenn eine ansonsten sozial eher randständige Gruppe massenhaft auftritt und gewissermaßen an einem Ort die Mehrheit bildet, die aber gleichwohl keine (konkreten) Tatabsichten hatten, - Männer, die darauf hofften, im Schutz der Dunkelheit und der Menschenmenge ab und zu eine Frau begrapschen oder in eine fremde Tasche greifen zu können, um etwas zu stehlen, - Männer, die von vornherein mit der festen Absicht gekommen waren, eventuell auch in Kooperation mit anderen Tätern, serienhaft Diebstähle zu begehen und/oder Frauen sexuell zu belästigen.
(. . .) Das massenhafte Begehen von Sexual- und Eigentumsdelikten dürfte nach Ansicht des Sachverständigen aber weder im großen Stil von Beginn an geplant noch völlig zufällig entstanden sein.
Als Erklärungsmöglichkeit für die große Zahl der in Köln verübten Taten bieten sich nach Einschätzung des Sachverständigen am ehesten sozialpsychologische Konzepte der Kriminologie an, insbesondere die sog. „Broken-Windows-Theorie“, die in den 1980er Jahren in den USA entwickelt wurde und die besagt, dass eine Situation bzw. ein Umfeld, das Menschen ein hohes Maß an Anonymität verleiht, das Gefühl von persönlicher Verantwortung und damit die Beachtung von sozialen und rechtlichen Regeln reduziert, wenn vor Ort bereits von anderen Straftaten begangen wurden, die offenbar ohne Konsequenzen geblieben sind. Genau dies war in der Kölner Silvesternacht der Fall. In einer solchen Umgebung können auch Personen, die ansonsten strafrechtlich unauffällig sind, antisoziales, egoistisches bzw. kriminelles Verhalten zeigen. (. . .)
Der Sachverständige nimmt an, dass die große Zahl der vor dem Kölner Hauptbahnhof versammelten Männer den Beteiligten schon am frühen Abend das sichere Gefühl gab, Teil einer großen und weitgehend anonymen Masse von Menschen zu sein, die keiner oder jedenfalls keiner sehr großen sozialen Kontrolle unterliegt. Die Dunkelheit des Silvesterabends dürfte das Gefühl, nicht (genau) erkannt bzw. später nicht identifiziert werden zu können, zusätzlich verstärkt haben.
Vereinfachend und salopp gesagt geht der Sachverständige nicht davon aus, dass sich am Silvesterabend 2015 in Köln Hunderte von gewaltbereiten und rücksichtslosen Kriminellen vorsätzlich und organisiert versammelt hatten, um Frauen sexuell zu demütigen und Männer wie Frauen zu bestehlen, sondern dass im Schütze der Dunkelheit und der großen Menschenmasse sukzessive eine „anomische“ Situation entstanden war, die - ausgehend von einer kleinen Gruppe zielbewusster Täter - mehr und mehr Personen veranlasste, sich ebenfalls an Straftaten zu beteiligen.
Zur Vermeidung dieses Sogeffekts und damit zur Verhinderung der festgestellten Flut von Straftaten in dieser Nacht wäre ein möglichst rasches und vor allem frühzeitiges Eingreifen der Polizei und sonstiger Schutz- und Ordnungskräfte, also die konsequente Verfolgung erster Straftaten, ggf. auch die frühe Räumung und Sperrung größerer Flächen, erforderlich gewesen. Dagegen kam die erst kurz vor Mitternacht erfolgte Räumung des Platzes wahrscheinlich erheblich zu spät und konnte so auch keine nennenswerte präventive Wirkung mehr entfalten.
Sicherlich waren die zahlreichen Straftaten der Kölner Silvesternacht 2015 insofern ein neuartiges Phänomen, als es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang kein vergleichbares (Groß-)Ereignis gegeben hat. Nach der vorläufigen Einschätzung des Sachverständigen erfordert die kriminologische Erklärung des komplexen Tatgeschehens jedoch nicht die Definition eines völlig neuen Modus Operandi. Vielmehr lassen sich sowohl aus den einzelnen Straftaten als auch aus dem Gesamtgeschehen hinreichend bekannte Erklärungsmuster ableiten, die für die Prävention möglicher zukünftiger Taten genutzt werden können. (. . .)