NRW Umweltminister Remmel: „Bis 2030 brauchen wir emissionsfreie Mobilität“

NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) über die Atmosphäre in der Regierungskoalition, Wasserstoff für Automobile und alte Remmel-Semmeln.

Minister Remmel (Mitte) beim Redaktionsbesuch. Mit Ulli Tückmantel (l), Olaf Kupfer (r) und Ekkehard Rüger (2.v.r).

Foto: Lepke, Sergej (SL)

Herr Remmel, wir vernehmen ein kräftiges Knirschen im Gebälk der rot-grünen Regierungskoalition in NRW. Sie auch?

Johannes Remmel: Ihre Frage ist wohl auch von dem Wunsch getrieben, dass es da ein bisschen lebhafter zugehen soll. Ich war bei Rot-Grün 1995 und 2005 - zuletzt als parlamentarischer Geschäftsführer - auch mit dabei: Die Situation heute ist mit damals in keiner Weise vergleichbar. Es gab das sogenannte Düsseldorfer Signal, als Steinbrück vergeblich versucht hatte, die Grünen loszuwerden. Das war seinerzeit bis zum Schluss eine Streitkoalition, dafür haben wir ja auch die Quittung bekommen. Jetzt arbeiten wir sehr professionell und sehr kollegial zusammen. Dass es mit Blick auf den Mai 2017 jetzt in eine Phase geht, in der auch Profilschärfung angesagt ist, ist doch klar.

Unlängst stellten drei SPD-Minister ein Bündnis für Infrastruktur vor, das ohne die Grünen auskam. Ein Affront?

Remmel:
Die Begleitmusik hat mich verwundert, die Kollege Groschek mit dem Begriff der „durchgrünten Gesellschaft“ schon intoniert hatte. Ich finde die Grundhaltung falsch. Es mag eine Lieblingsvorstellung von Sozialdemokraten sein, aber mit dem Megafon kriegt man in Deutschland kein Projekt hin. Da steht man außerhalb eines gewachsenen Planungs- und Rechtsrahmens. Wenn man wirklich Planungszeiten verkürzen will, dann geht das, indem man mit den Menschen vor den offiziellen Planungen spricht. Ein negatives Beispiel ist die CO-Pipeline. Ein klassischer Fehler eines Weltunternehmens, das nach 30 Jahren Bürgerinitiativbewegung eigentlich hätte wissen müssen, wie man mit Öffentlichkeit umgeht. Erst still und heimlich und wenn es nicht läuft mit großem Druck - das muss schiefgehen. Aber es geht auch anders: Ein Projekt mit früher Bürgerbeteiligung, Einbeziehung der Umweltverbände und sachlicher Erörterung ist die große TDI-Produktionsanlage TDI-Anlage von Bayer in Dormagen, die in Bezug auf die chemischen Prozesse mindestens genauso sorgfältig betrachtet werden musste.

Ist das Vorhaben der SPD-Minister, eine Arbeitsgruppe an verkürzten Verfahren arbeiten zu lassen, um Infrastrukturmaßnahmen zu beschleunigen, realistisch?

Remmel:
Das ist für mich wie „täglich grüßt das Murmeltier“. Wenn es allgemein darum geht, Bürokratie abzubauen, sind alle schnell dabei, wenn aber dann etwas schief geht — siehe Berliner Flughafen — fragen alle: Warum habt ihr nicht besser geplant? Das Planungsrecht hat sich über lange Zeit entwickelt. Es muss aber vorausschauend gelebt werden. Spätestens seit Stuttgart 21 ist doch klar, dass man mit Wasserwerfern kein Projekt gegen die Bürger hinkriegt.

Bis 2020 wollen sie den Anteil der Windenergie in NRW auf 15 Prozent erhöhen. Umweltgruppen kritisieren, dafür fehlten die Flächen. Ist Windenergie gar nicht mehr umweltfreundlich?

Remmel: Ein schönes Beispiel, wo wir zeigen, wie es gehen kann. Bei größerem Widerstand würde man gerne rein emotional einfach mal den Bagger rausholen um anzufangen. Aber: Wir haben ja Erfolg bei den Ausbauzahlen und das ist sehr mühsam, aber lohnenswerte Arbeit, mit allen Beteiligten vor Ort zu reden - inklusive Moderation und Mediation. Wir hatten 2010 unter Schwarz-Gelb am Ende 90 Megawatt mehr Windenergie pro Jahr, wir sind jetzt bei Zuwächsen von über 400 Megawatt im Jahr, 2016 wird vermutlich das beste Ausbaujahr. Und wir sind damit auf Platz zwei in der Bundesrepublik. Da haben wir eine gute Strecke hingelegt.

Wir stehen vor einem neuen Landesentwicklungsplan. Der Industrie dürfte der kaum gefallen.

Remmel:
Ich bin auch Landwirtschaftsminister und für Naturschutz zuständig. Wir haben in NRW ein sehr enges Korsett, was Flächen angeht. Hier leben 18 Millionen Menschen auf engem Raum. Und wir haben mit die höchsten Pacht- und Grundstückspreise für landwirtschaftliche Flächen in der Republik. Wenn ein Landwirt heute teure Flächen pachtet, was er muss, dann ist er fast gezwungen, auch intensiv zu wirtschaften. Das geht oftmals zu Lasten der Böden und des Wassers. Insofern hängen der hohe Flächendruck und das intensive Wirtschaften zu Lasten von Mensch und Tier durchaus zusammen. Das andere ist: Natur braucht Flächen. Aber trotzdem sage ich: Wir werden bei jeder Industrieverlagerung oder -neuansiedlung Flächen finden. Aber meistens geht es ja um Straßenbau- oder Gewerbeflächen, wo großflächiger Einzelhandel aus der Innenstadt an die Peripherie verlagert wird. Wer braucht schon den zwölften Baumarkt oder den vierzehnten Discounter?

Wie leben Sie eigentlich persönlich mit so vielen Kämpfen, ständig im Kreuzfeuer?

Remmel:
Viel Feind, viel Ehr (lacht). Nein, das geht natürlich nicht immer spurlos an einem vorbei.

Sind die Jäger die öffentlichkeitswirksamste Gruppe, mit der Sie sich angelegt haben?

Remmel:
Wenn man es anhand von Demonstrationen misst, dann ja. 15 000 Jägerinnen und Jäger vor dem Landtag: Respekt, das hat mich schon beeindruckt. Die Diskussion zum Naturschutzgesetz zeigt aber, dass Interessenskonflikte auch anders gelöst werden können: kontrovers und kritisch, aber konstruktiv. Es hat ja auch beim Jagdgesetz viele Veränderungen im Sinne der Jäger gegeben. Nur am Ende des Tages hat der Landesjagdverband entschieden: Das alles reicht uns nicht. Da kann ich dann auch nur noch sagen: Wenn ich nichts verändern wollte, müsste ich kein neues Gesetz machen. Das Jagdgesetz setzt deutlich neue Impulse bei Tier- und Naturschutz — und das ist auch gut so.

Auch die Hygiene-Ampel stellt nicht alle zufrieden. Ist sie notwendig?

Remmel:
Seit Jahren gehen die Beanstandungen bei Lebensmittelkontrollen nicht wirklich runter — teilweise eher im Gegenteil. Wir können da besser werden. Und wir haben Die Erfahrungen mit solchen Modellen in Großbritannien, in Dänemark, wo es Ähnliches gibt, und bei unseren Pilotprojekten in Bielefeld und Duisburg zeigen, dass sich die Qualität im ganzen Querschnitt verbessert. Das Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu stärken. Und: Auf Transparenz haben Bürger auch ein Recht. Grundsätzlich wäre mir auch lieber gewesen, wir hätten eine Bundeslösung, die wird aber seit fünf Jahren von der CSU verhindert.

Und für die vom Bäckerhandwerk protestweise aufgelegte Remmel-Semmel haben Sie ein Lächeln übrig?

Remmel:
Ich habe mich am Anfang schon gefragt: Was machen die da? Zu meiner Zeit als parlamentarischer Geschäftsführer war ich montags in der Runde mit Ministern und dem Fraktionsvorstand für die Bewirtung zuständig. Die Brötchen waren für die Kollegen immer ein bisschen trocken, deshalb hießen die damals schon Remmel-Semmeln (lacht). Ich vermute, ein Insider hat den Bäckern von damals erzählt.

Wird die Hygiene-Ampel in ihrer Ausgestaltung noch überdacht?

Remmel:
Sie ist jetzt im Gesetzgebungsverfahren und wird hoffentlich im neuen Jahr beschlossen. Wir haben sehr viele Bedenken aufgenommen: Drei Jahre Übergangszeit oder auch die Möglichkeit einer Nachprüfung. Und wir haben vereinbart, mit Bäckern, Metzgern und allen Beteiligten eine Begleitrunde zu bilden, in der Zweifelsfälle diskutiert werden. Lassen Sie es uns jetzt mal probieren. Die größte Befürchtung bei den Betrieben ist, dass willkürlich beurteilt wird. Aber das System ist so breit, da sind 73 Punkte zu vergeben - und wir haben die Dokumentationspflichten schon rausgenommen. Wenn von diesen Punkten die Hälfte nicht erreicht wird, dann ist auch wirklich etwas nicht in Ordnung.

Sie wären auch für die blaue Plakette gewesen. Ist die jetzt definitiv vom Tisch?

Remmel:
Nein, die Bundesumweltministerin hat sie auf Eis gelegt. Wenn man den Beschluss der Umweltminister der Länder genau liest, steht eines ganz vorne: Abgasmanipulationen gibt es offenbar bei allen Fahrzeugen. Deshalb muss die Bundesregierung in der Frage „Abgasskandal“ zuerst die Autofahrer unterstützen und ihre Rechte durchsetzen. Die dürfen doch nicht auch noch mit einem Fahrverbot bestraft werden. Es gilt aber auch, dass der Staat für körperliche Unversehrtheit garantieren und die Gesundheit der Bürger schützen muss. Das hat uns das Verwaltungsgericht in Düsseldorf jüngst noch einmal sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben. Wir werden deshalb den Gesundheitsschutz durchsetzen müssen. Die wirkliche Schande ist, dass erst amerikanische Behörden kommen müssen, um uns den Skandal unserer Technologiepolitik aufzudecken. In den USA haben sie mit einem ganz anderen Haftungsrecht viel mehr Optionen, auf die Hersteller zuzugreifen.

Daraus kann man lernen.

Remmel:
Absolut, deswegen muss es auch hier bald Messungen im laufenden Verkehr geben: Und dann muss man auch Haftungsansprüche geltend machen können.

Man konnte lesen, dass sie aber auch kein Fan von Elektrofahrzeugen sind.

Remmel:
Ich möchte gerne einer werden. Bei unserem Elektroauto im Ministerium waren 180 Kilometer Reichweite versprochen. Aber im Winter muss man schon einen Pullover anziehen und kein Radio anmachen, damit die Energie für die Kilometer reicht. Deshalb ist das bisher nur eine Lösung für den Stadtverkehr und kurze Strecken. Grundsätzlich aber brauchen wir eine politische Leitentscheidung, ab 2030 emissionsfreie Mobilität zu haben, um der Automobilindustrie Dampf zu machen.

Sie bevorzugen dabei Wasserstoff.

Remmel:
Ich würde das technologieoffen sehen. Elektro ist nicht schlecht, aber für Automobile kann ich mir auch Wasserstoff- und Brennstoffzelle vorstellen, zumal wir in NRW eine Infrastruktur haben: Durch das Ruhrgebiet bis an den Rhein gibt es eine gut 200 km lange Wasserstoffleitung, die von Gashändlern und Unternehmen genutzt wird. Die könnte man auch als Rückgrat für eine Infrastruktur aufbauen. Ich möchte gerne jetzt ein Wasserstofffahrzeug als Dienstwagen testen. Um uns herum, in Holland oder Österreich etwa, tut sich da einiges. Ich habe große Sorge, dass unsere Automobilindustrie am Ende nur die Rücklichter sieht. Die Chinesen haben ihre ganze Zweiradindustrie rasend schnell auf Elektro umgestellt und sind beim Auto auch gut unterwegs.

Sie sprachen eingangs von der Phase der Profilschärfung, was schärfen Sie denn an Themen?

Remmel:
Es geht um Zukunftsperspektiven: Chancen für alle, Bildung, Kitas, Pflege im Alter, Umgang mit Flüchtlingen, da werden wir pointieren. Und: Kriegen wir in der nächsten Legislaturperiode den Schlussstein für einen umfassenden Strukturwandel gesetzt, dass wir als energieintensives Industrieland in allen Bereichen auch den Wandel hin zu erneuerbaren Energien schaffen? Wir haben eine industrielle Basis, das soll auch in Zukunft unsere Wertschöpfung und unsere Wettbewerbsposition bestimmen, und dafür braucht die Industrie noch mehr grüne Innovationen. Eine Industrie, die sich auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz konzentriert, ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Und hier sind wir wie kein anderes Bundesland gefordert. Es reicht nicht nur, die fossile Stromerzeugung durch erneuerbare Energie zu ersetzen. Wir müssen auch industrielle Produktionsprozesse decarbonisieren und das ist verdammt schwer. Dazu brauchen die Unternehmen viel Forschung und vor allem viel Kapital. Im Moment wird viel zu wenig investiert in neue Technologien, auch weil der Strom an der Börse zu billig ist.

Wären Sie gerne der Umweltminister gewesen, der Garzweiler dichtgemacht hat?

Remmel:
Die Frage ob wir aus der Kohle aussteigen ist doch längst entschieden. Auch die Leitentscheidung zeigt: Der Ausstieg findet schon statt. Es geht also ums „Wie“ und das soll doch geordnet und nicht chaotisch passieren. Wir haben Überkapazitäten im konventionellen Bereich, da findet eine Kannibalisierung statt. Wir brauchen Restlaufzeiten für alle Stein- und Braunkohlekraftwerke für die nächsten zwanzig Jahre, ähnlich wie beim Atomausstieg. Alle wissen, dass das kommen wird, aber die Bundesregierung und die Unternehmen weigern sich, vor der Bundestagswahl darüber zu sprechen.

Wie geht denn die Landtagswahl im Mai 2017 aus?

Remmel:
Noch zum Jahresende 2010 hat niemand einen Cent darauf gewettet, dass Schwarz-Gelb nicht weiterregieren würde. In den folgenden fünf Monaten hat es noch eine unglaubliche Dynamik gegeben. Das eine neue politische Gruppe dazukommen wird — was ich gerne verhindern würde — macht eine Regierungsbildung wahrscheinlich schwieriger. Damit sind die Alternativen klar: Große Koalition oder mehr Grün. Ich sehe durchaus Chancen, dass wir mit starken Grünen auch Rot-Grün fortsetzen könnnen. Wahlkampf heißt kämpfen.

Die drei größten Erfolge der Grünen in dieser Legislaturperiode?

Remmel:
Die große Aufgabe Inklusion endlich angepackt und den jahrzehntelangen Streit um die Schulstrukturen in einen Schulfrieden verwandelt zu haben. Ich bin stolz darauf, dass wir in Deutschland das erste Klimaschutzgesetz gemacht haben, und dass wir so eine gute Entwicklung beim Windenergieausbau erreicht haben. Auch auf Wasser- und Naturschutzgesetz kann der Umweltminister zufrieden zurückblicken. Wir haben auch in der Intensivtierhaltung vieles angestoßen, weg von Massentierhaltungen und Überzüchtungen. Dass wir den massiven Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung halbieren konnten, geht auf eine Initiative von NRW zurück.