„Wir haben auch nicht gesucht“ - Lehren aus dem NSU-Debakel
Über Jahre explodieren in Deutschland immer wieder Bomben in Migrantenvierteln. Für die Ermittler steht allzu schnell fest: kein rechtsextremistischer Hintergrund. Der NSU-Ausschuss im NRW-Landtag offenbart: Selbst Erkenntnisse von Scotland Yard wurden abgelegt.
Düsseldorf. Wie ist es möglich, dass eine rechtsextremistische Terrorzelle in Deutschland mehr als ein Jahrzehnt unentdeckt eine Blutspur hinter sich herziehen kann? An dieser Frage arbeiten mehrere Untersuchungsausschüsse (PUA) in Bund und Ländern. Sie beschäftigen sich mit fremdenfeindlichen Mordserien, die dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeschrieben werden.
Noch bevor das Oberlandesgericht München sein Urteil fällt, hat der PUA des Düsseldorfer Landtags nach über zweijähriger Arbeit viele Puzzleteile zusammengesetzt. Nach mehr als 80 Zeugenvernehmungen zeichnet er auf 1150 Seiten unterschiedliche Wahrheiten nach: vor allem das Versagen der Sicherheitsbehörden und das Leid der Angehörigen.
Am eigenen Leib hat das Abdulla Özkan erlebt. Als am 9. Juni vor einem Friseursalon in der von vielen Migranten bewohnten Kölner Keupstraße eine Nagelbombe 22 Menschen verletzt, steht er gerade an der Tür. Dem Trauma des Anschlags folgt die lähmende Erfahrung, dass die betroffenen Familien von den Ermittlern jahrelang wie Teile eines kriminellen ausländischen Zirkels behandelt werden.
Im Abschlussbericht liest sich das so: „Die Annahme einer bereits so früh gefassten Arbeitshypothese beruht darauf, dass das Polizeipräsidium und die Staatsanwaltschaft Köln im Grunde genommen fast ausschließlich diffusen Andeutungen auf Konflikte zwischen Türken und Kurden, Türsteherszene, Zuhälter und insbesondere Schutzgelderpressung nachgegangen sind. Keine der befragten Personen vermochte Gründe für die angestellten Vermutungen zu nennen.“
Über Jahre habe das Polizeipräsidium Köln versucht, den Angehörigen „das nicht vorhandene Wissen abzupressen“ und dafür auch V-Leute und Finanzermittlungen „als Druckmittel eingesetzt“. Die Ermittlungen bleiben nicht unbemerkt und stigmatisieren ganze Familien. Damals sagt Özkans zehnjährige Tochter: „Vater, die Kinder in der Straße und in der Schule spielen mit mir nicht mehr. Du bist ein schlimmer Mensch.“
Ähnliches berichten die Witwe und die Tochter des 2006 in seinem Dortmunder Kiosk erschossenen Opfers Mehmet Kubasik. Obwohl in NRW bereits Anfang der 90er Jahre Bomben in türkischen Migrantenvierteln explodieren und die Ermittler Hinweise auf Neonazis erhalten, verfolgen sie diese Spuren jahrelang nicht.
Noch im Sommer 2002 stellt der NRW-Verfassungsschutz in einer Analyse fest: „Es gibt zur Zeit keine Anhaltspunkte für rechtsextremistische terroristische Aktivitäten“. Dabei hatte es im Jahr 2000 zwei schwere Sprengstoffanschläge auf Migranten in der Kölner Probsteigasse und an der Düsseldorfer S-Bahnstation Wehrhahn gegeben.
In seiner Zeugenbefragung zu möglichen rechtsextremen Motiven des Mordes an dem Dortmunder Kioskbesitzer sagt der Leiter des NRW-Verfassungsschutzes, Burkhard Freier: „Wir hatten diese Anhaltspunkte nicht. Wir haben sie aber auch ehrlicherweise nicht gesucht.“
Die Grünen stellen in ihrem Sondervotum fest: „Hier offenbart sich ein staatliches Versagen, das beispiellos ist.“ Daneben gebe es ein gesellschaftliches Versagen. Die tödlichen Schüsse in Dortmund waren 2006 in Deutschland der achte Fall einer ungeklärten Mordserie an Kleinunternehmern mit ausländischen Wurzeln. Die seien auch von der Öffentlichkeit voreilig mit Drogen-Fehden erklärt und unter dem unsäglichen Begriff „Döner-Morde“ einsortiert worden.
Der Ausschuss kann nicht beantworten, wie, von wem und warum Opfer und Tatorte ausgewählt wurden. Er einigt sich aber auf einen Katalog mit Handlungsempfehlungen. NRW soll demnach einen Staatsvertrag unter den Ländern anstoßen, damit solche sensiblen Ermittlungen künftig zentral von einer Landespolizeibehörde mit Weisungsrecht geführt werden können. Für dringend erforderlich hält der Ausschuss darüber hinaus die Fortbildung von Kriminalbeamten, damit rassistische und rechtsextremistische Motive überhaupt erkannt werden.
Der Abschlussbericht offenbart viele Defizite bei den Ermittlern. So wird 2004 ein 70-seitiger Bericht von Scotland Yard mit Hinweisen auf möglicherweise vergleichbare Nagelbombenanschläge gegen Farbige, Homosexuelle und Juden abgelegt, weil der Sachbearbeiter kein Englisch kann. Der Bericht hält fest: „Im Ergebnis bleibt damit festzustellen, dass der Hinweis von Scotland Yard von der Polizei Köln nicht verstanden und infolge dessen nicht bearbeitet worden ist.“