Thema 2007 - Gespaltene Gesellschaft: Familie als Sprungbrett oder schwarzes Loch

Die Bildungsoffensive erreicht bisher nur jene Kinder, die ohnehin von ihren Eltern gefördert werden. Der Staat muss mehr Verantwortung übernehmen.

<strong>Düsseldorf. Die Eltern öffnen Carl alle Türen. Der Elfjährige besucht die Musikschule und lernt dort Schlagzeug. Zweimal in der Woche bringt Carls Mutter den Jungen zum Hockeytraining. Zu den Spielen am Wochenende begleitet ihn meist der Vater. Wenn es in einem Schulfach mal nicht so gut läuft, treiben seine Eltern einen Oberstufenschüler auf, der mit Carl lernt. In die Stadtteil-Bibliothek geht der Junge schon allein. Am liebsten leiht er sich Krimi-Hörspiele und Fantasy-Bücher aus.

Nach dem Pisa-Schock achten mehr und mehr Eltern darauf, dass ihre Kinder ihre Fähigkeiten möglichst vielseitig entwickeln. Sie sollen ihre Talente voll ausschöpfen können. Nie zuvor ist eine Kinder- und Jugendlichen-Generation so gefördert worden. "Du bist, was Du weißt", ist das Motto der Eltern, die ihre Kinder fit für eine Gesellschaft machen, die ihren Mitgliedern immer mehr Wissen und eine immer größere Flexibilität abverlangt.

Dennis Welt ist überschaubarer. Nach der Schule sitzt der Zehnjährige meist allein in seinem Zimmer. Mit der Spielkonsole vertreibt er sich am Nachmittag die Langeweile. Seine Mutter, die von Hartz IV lebt, mag nichts mit ihm unternehmen. Sein Vater, der wegen einer anderen Frau ausgezogen ist, ruft nie zurück.

Zum Fußball ist Dennis nur vier- oder fünfmal gegangen. Als der Trainer ihn dumm angemacht hat, wollte er da nicht mehr hin gehen. Es fällt Dennis schwer, einen Satz zu bilden, der mehr als fünf Worte umfasst. Für die Unterhaltung mit den Kindern, die er draußen rund um den Block trifft, reicht das vollkommen aus.

Rund ein Viertel der Kinder wird einige Jahre später vollkommen abgehängt sein. Sie verlassen die Schule ohne oder mit einem schlechten Hauptschulabschluss und haben keine Aussicht auf einen qualifizierten Berufseinstieg.

Dieses "Prekariat" hat mit der ehemaligen Arbeiterklasse so gut wie nichts mehr gemein. Letztere war nicht nur eine Produktions-, sondern auch eine Wertegemeinschaft, die sich an Tugenden wie Fleiß, Verlässlichkeit und Gemeinschaftssinn orientiert hat. Sichtbarster Ausdruck für dieses Streben waren die Sport- und Kulturvereine. Mit ihrem Aufstiegsdrang verkörperte die Arbeiterklasse eine ähnliche Haltung wie die heutige Mittelschicht.

Nach jahrzehntelangen Versäumnissen ist Familien- und Bildungspolitik endlich kein "Gedöns" mehr, wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder abfällig witzelte. Während die neuen Angebote von einer Mittelschicht begierig aufgesogen werden, die ihren nicht mehr selbstverständlichen sozialen Status absichern will, erreichen sie die Kinder der Unterschicht gar nicht.

Im Gegenteil: Sie zementieren die Teilung der Familien sogar. Wenn die Trennlinie bei den Kindern zwischen Eltern verläuft, die engagiert und zahlungsfähig sind, und Eltern, die sich längst aufgegeben haben, dann helfen freiwillige Angebote nicht mehr weiter. Das gilt für das Elterngeld genauso wie für den Ausbau der Krippenplätze.

Gesellschaftliche Spaltung 2,6 Millionen Kinder in Deutschland gehören zu Haushalten, die von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe leben. Das sind 14 Prozent der Kinder in Deutschland. 2001 betrug dieser Anteil noch 9,8 Prozent, 1989 lag er erst bei 4,5 Prozent.

Schulkarrieren 19 Prozent der Kinder aus der Unterschicht besuchen eine Förderschule - im Vergleich zu einem Prozent aus der Oberschicht. Nur 20 Prozent der Grundschüler aus der Unterschicht streben das Abitur an, bei der Oberschicht sind es 81 Prozent.

Privatschulboom Das Bildungsbürgertum setzt sich immer stärker vom staatlichen Schulwesen ab: 1992 besuchte jeder 20. Schüler in Deutschland eine Privatschule, 2005 war es schon jeder 14. Schüler - eine Steigerung um 43 Prozent. Private Kindergärten mit Englischkursen sind keine Seltenheit mehr.