Lehrlinge an die Macht - Ohne Studium zum Top-Job

Mainz (dpa) - Tobias Rotard weiß, wie sich eine Hose bei Körperwärme weitet. Er hat das gelernt, damals in seiner Ausbildung. Er weiß es auch immer noch, aber seitdem ist viel passiert. Heute hat Rotard rund 60 Mitarbeiter und trägt Verantwortung für Summen im zweistelligen Millionenbereich.

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Der 27-jährige Geschäftsleiter der Modeketten-Filiale „SinnLeffers“ am Mainzer Dom hat eine schnelle Karriere hingelegt. Ein Studium - in den Augen vieler Berufsanfänger immer noch der Türöffner zu den Top-Jobs - war dafür nicht notwendig.

In der Diskussion um den vermeintlichen „Akademisierungswahn“ in Deutschland ist Rotard daher ein interessanter Fall. Erst kürzlich zeigte der Berufsbildungsbericht wieder auf, dass die Zahl der neuen Lehrverträge zurückgeht. Eine der genannten Ursachen: „eine gestiegene Studierneigung“. Die Studentenzahlen sind derweil auf Rekordniveau. Aus Wirtschaft und Politik sind daher immer wieder Stimmen zu hören, die den Trend als Problem ausmachen. Es falle nämlich immer schwerer, Stellen adäquat zu besetzen.

Doch was lässt sich der „Studierneigung“ entgegenhalten? „Meine Motivation, nach meinem Realschulabschluss weiterhin die Schulbank zu drücken, hielt sich in Grenzen, es war mir einfach zu theoretisch“, sagt Rotard. Also fing er mit 15 Jahren eine Ausbildung an. Von einem Familienunternehmen für Herrenoberbekleidung aus arbeitete er sich Stück für Stück die Karriereleiter hoch. Während in seinem Alter viele Uniabsolventen gerade erst auf dem Arbeitsmarkt eintrudeln, hat er schon viele Jahre Berufserfahrung im Lebenslauf stehen.

Klar ist auch, dass Rotard eine Art Posterboy der Lehrlingsbranche ist. Selbst die Landesregierung wirbt mit ihm bei ihrer Fachkräfte-Kampagne. Verallgemeinern lässt sich sein Weg nicht. „Ob man mit einer beruflichen Ausbildung in einem Unternehmen richtig Karriere machen kann, hängt auch etwas vom Betrieb ab - ob die Verantwortlichen schauen: Hat der es drauf oder hat er es nicht drauf?“, sagt Steffen Schüpferling, der in Alzey eine Berufsberatung betreibt. „Vielfach ist es schon noch so, dass Mitarbeiter mit Studienabschluss schneller in die besseren Positionen kommen.“

Dass es mittlerweile quasi als Selbstverständlichkeit gilt, nach Möglichkeit Abitur zu machen, stellt der Berufsberater bei seiner Arbeit allerdings auch seit einiger Zeit fest. Dabei sei das nicht immer der sinnvollste Weg. „Viele Schüler stehen nach den Prüfungen da und fragen sich: Warum habe ich jetzt eigentlich Abitur gemacht?“

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Koblenz nennt weitere Argumente für die Ausbildung. „Die demografische und bildungspolitische Entwicklung wird in den nächsten Jahren dafür sorgen, dass Absolventen von Aus- und Fortbildung mehr nachgefragt sein werden, als akademisch vorqualifizierte Berufseinsteiger der gleichen Alterskategorie“, sagt Bildungsexperte Bernhard Meiser.

Wer eine Ausbildung mit anschließender Fortbildung mache, erreiche einen Abschluss auf Bachelor-Niveau, verdiene aber von Anfang an Geld und müsse sich nicht wie die Uni-Absolventen mit vielen anderen erst noch dem Markt stellen. „Langfristig und im Durchschnitt gesehen bestehen auch keine schlechteren Verdienstmöglichkeiten.“

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warnt in der Debatte allerdings davor, einen Keil zwischen Ausbildungs- und Studiumswelt zu treiben. „Die Unternehmen brauchen Absolventinnen und Absolventen sowohl aus der akademischen als auch aus der beruflichen Bildung“, sagt ein Sprecher.

Wie sich die beiden Welten mitunter überlappen, erlebt Tobias Rotard in seinem Job. In seinem Haus arbeiten auch Studenten als Aushilfen. „Es passiert häufig, dass sie mich fragen: Kann ich hier vielleicht auch eine Ausbildung machen? Das, was ich gerade mache ist nicht das, was ich will.“