Die Kunst des Leidens: Seelische Widerstandskraft lernen
Hamburg (dpa/tmn) - Manche Menschen lassen sich von Rückschlägen völlig aus der Bahn werfen. Andere überstehen auch große Krisen scheinbar mühelos. Psychologen vergleichen das Phänomen Resilienz mit einem Stehaufmännchen.
Seelisch wieder aufzustehen, kann man lernen.
Der Sechsjährige liegt in seinem Bett, als die Wehrmachtssoldaten ihn umzingeln und Waffen auf ihn richten. Eine Frau bittet die Männer, das Kind nicht zu töten. Mit dieser Szene beginnt die Autobiografie des französischen Resilienzforschers Boris Cyrulnik „Rette dich, das Leben ruft“, die Mitte September im Ullstein-Verlag erscheint.
Cyrulnik verliert seine Eltern im Konzentrationslager, wächst in Heimen, Pflegefamilien und Internaten auf. Sein Forschungsgebiet ist das Phänomen, das ihm half, die ungewöhnlich großen seelischen Qualen seiner Kindheit zu überstehen: Resilienz.
„Resilienz ist die innere Widerstandskraft“, erklärt die Diplompsychologin Lilo Endriss aus Hamburg. Menschen mit hoher Resilienz besitzen die Fähigkeit, sich von schweren Schicksalsschlägen nicht völlig aus der Lebensbahn werfen zu lassen.
Warum einige besser mit Schicksalsschlägen umgehen können als andere, hängt laut Endriss mit drei Schutzfaktoren zusammen. Bei einigen Menschen seien sie stärker ausgeprägt, bei anderen schwächer. Der Schutzfaktor des Individuums ist die Gabe, stolz auf sich zu sein. „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ nennt Karl-Günther Theobald von der Opferschutzorganisation Weißer Ring diese Gabe. Menschen, bei denen dieser Faktor stark ausgeprägt ist, haben das gute Gefühl, Situationen durch ihr Handeln positiv beeinflussen zu können.
Der Schutzfaktor der Familie: Der Mensch brauche eine Bezugsperson, stellt Endriss klar. Resiliente Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt wurden, suchten sich oft Ersatzeltern, etwa die Großeltern, Geschwister oder Nachbarn. Auch Religiosität könne diesen Schutzfaktor bilden, sagt Endriss.
Auf die Frage nach verschiedenen Schweregraden von Leid gibt der Psychotherapeut Theobald eine wissenschaftliche Antwort: Forscher hätten verschiedene Situationen untersucht, in denen Menschen leiden. Dann maßen sie den Anteil derer, die wegen dieser Situation ein Trauma ausbildeten.
Das Ergebnis ist eine Art Ranking des Leidens: Ganz oben stünden die Qualen der Folter und ein Aufenthalt im Konzentrationslager. 70 bis 75 Prozent der Betroffenen bilden laut Theobald ein Trauma aus, das psychotherapeutisch behandelt werden muss. Nach einer Vergewaltigung erkranke rund die Hälfte der Betroffenen. Am unteren Ende der Skala sei etwa ein Wohnungseinbruch, der rund 10 Prozent der Opfer traumatisiere.
Der Tod eines Angehörigen lasse sich nur schwer in dieses Ranking einordnen. „Das hängt stark davon ab, wer stirbt“, sagt Theobald. Als erwachsener Mensch die eigenen Eltern zu begraben, sei eine vergleichsweise normale Belastungssituation. Als Eltern ein Kind zu begraben, sei dagegen nicht normal.
Resilienz sei lernbar, versichern die Experten. Wichtig ist die Einstellung, die der Betroffene zu seinem Leid hat. „Resiliente Menschen haben die Fähigkeit, sich zu distanzieren, sich nicht überwältigen zu lassen“, sagt Endriss. Sie stellen sich wie ein Unbeteiligter gedanklich neben sich, schauen sich die Lage an und handeln anschließend.
Resiliente Menschen nehmen in einer Krisensituation Hilfe an. Nicht resiliente Menschen zerbrechen laut Endriss oft an ihrer Trauer, weil sie sich allein fühlen. „Und weil sie denken: Das muss ich doch alleine wuppen können.“ Ganz alleine kämen aber nur die wenigsten aus einer Krise heraus.
Auch das Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit lasse sich trainieren, sagt Theobald. Manchmal helfe schon ein Selbstverteidigungskurs. Dabei erfahre der Teilnehmer, dass er einem kräftigeren Menschen nicht hilflos ausgeliefert sein muss.
Literatur:
Boris Cyrulnik: Rette dich, das Leben ruft, Ullstein, 304 Seiten, 19,99 Euro, ISBN-13 978-3550080395