Jeder Zehnte ist hochsensibel
Die Betroffenen können keinen Lärm und keine Menschenmassen ertragen. Oft wird ihr Leiden verkannt.
Düsseldorf. Sie halten Lärm kaum aus und machen einen großen Bogen um laute Partys. Chaos und Veränderungen bringen sie völlig aus dem Tritt. Sie brauchen viel Zeit für sich allein und gehen am liebsten dorthin, wo es möglichst still und reizarm ist. Heulsuse, Angsthase oder Mimose sind Worte, die sie als Kind oft gehört haben.
Im Psychologenjargon heißen sie mittlerweile die "Hochsensiblen". Die Rede ist von besonders empfindsamen Menschen, deren Nervensystem so beschaffen ist, dass sie weitaus mehr Reize aufnehmen können und verarbeiten müssen, als normalerweise üblich.
Statistisch gilt mittlerweile jeder zehnte Bundesbürger als hochsensibel - viele der Betroffenen landen immer wieder auf der Couch von Therapeuten, bis sich ihre vermeintliche Angsterkrankung oder ein irrtümlich diagnostiziertes Hyperaktivitätssyndrom als übermäßige Empfindsamkeit erweist.
"Ich hatte viele Jahre das Gefühl, das ich von einem anderen Stern komme. Im Unterricht hat es mich verstört, wenn zuviel Halligalli in der Klasse war", erinnert sich Michael Jack, der vor zwei Jahren einen bundesweiten Verein für Hochsensible gegründet hat.
Jack initiierte Gesprächskreise in Dortmund und Bochum, die extreme Dünnhäutigkeit ist ihm als Betroffener bestens vertraut. "Hochsensiblen fehlt einfach der Filter, um Umweltreize ausschalten zu können", sagt er.
"Ein empfindsames Nervensystem zu haben ist normal. Diese Menschen können Feinheiten in ihrer Umgebung eher wahrnehmen. Allerdings fühlen sich hochsensible Menschen häufig überfordert, wenn sie über einen zu langen Zeitraum starken Reizen ausgesetzt sind und von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert werden, bis ihnen ihr Nervensystem Erschöpfung signalisiert", weiß Elaine Aron. Die US-Therapeutin hat das Phänomen bereits in den 1990er Jahren intensiv erforscht.
Auch körperlich wirkt sich der fehlende Reizfilter aus: Hochsensible leiden häufiger unter Allergien, erhöhter Kälte-Wärme-Empfindlichkeit und Erschöpfung. "Es gibt mittlerweile einen Test, und viele, die sich darin erkennen sind glücklich, dass sie endlich wissen, was los ist", so Yvonne Àts. Die Freiburger Psychologin leitet einen Gesprächskreis und weiß, dass Hochsensibilität auch oft Probleme im Berufsalltag mit sich bringt.
Hochsensible sind weniger belastbar, dafür aber langsam und gründlich. "Dort, wo es um schnelle Ergebnisse geht, geraten sie oft ins Aus", glaubt Rolf Sellin. Der studierte Architekt ist selbst ein Hochsensibler. Als er merkte, dass er sich auf Baustellen nicht durchsetzen konnte, bildete er sich zum Heilpraktiker und systemischen Coach weiter und gründete schließlich das HSP-Institut Stuttgart, in dem er sich auf die Beratung von Betroffenen in der Wirtschaft und in sozialen Berufen spezialisiert hat.
"Hochsensible haben die Fähigkeit, über den Tellerrand zu sehen, größere Zusammenhänge zu erfassen und zugleich den Dingen tiefer auf den Grund zu gehen", klärt der HSP-Coach über die Stärken auf. Betroffenen rät er, ständige Überreizungen zu vermeiden und auf die eigenen Grenzen zu achten.