Chios: Griechische Insel mit süßem Geheimnis
In der Ostägäis scheint das Land urig und fern jeder Hektik, vor allem auf Chios.
Griechenland. Eine klebrige Schleckerei hat die griechische Insel Chios berühmt gemacht: Mastix. Die anregenden Wirkungen dieses Naturkaugummis kannten schon die Haremsdamen der türkischen Paschas. Die anderen Liebreize ihrer grünen Insel behielten die wohlhabenden Chioten dagegen lange für sich. Dabei ist es heute gar nicht mehr schwer, das süße Geheimnis von Chios zu lüften: Man muss nur in ein Flugzeug steigen und hinfliegen.
Sacht plätschern die Wellen an die Hafenmauer. Bei harzigem Wein und Mezedes, den typisch griechischen Vorspeisen, sitzt ein Urlauberpaar im Freien vor Iannis Nikolakis’ Taverne Akropolis. Direkt daneben vertilgt eine griechische Großfamilie Berge von Oktopus. Kellner kritzeln Bestellungen auf einfache Papierdecken. Ein Weinbauer kauft dem alten Manolis eine Papiertüte Pistazien ab - auf Chios sind die Griechen immer noch weitgehend unter sich.
Die wenigen Hotels und Pensionen gruppieren sich zehn Busminuten weiter südlich um den goldgelben Strand von Karfas. Als die beiden Urlauber ihn begutachten, ist er ganze acht Meter breit. "Ungünstige Strömung", erklärt Gregory fachmännisch. Die Liegen, die der Bademeister vermietet, haben fleißige Frühaufsteher bereits morgens früh um halb neun mit Handtüchern belegt: Kein Zweifel, hier sind deutsche Pauschaltouristen am Werk. Wohnen kann man in Karfas in einer Reihe von freundlichen Studios: Ferienwohnungen mit Kochecke. Abends trifft man sich in den zwei Tavernen.
Wie notgelandet wirken dazwischen zwei Vier-Sterne-Hotels. Das "Golden Sand" empfängt die beiden Besucher mit chromblitzender Rezeption, eiskalter Klimaanlage und teurer Minibar in den Zimmern. Der Boss hat sein Geld in den USA gemacht. Schnell gewöhnt man sich an den Luxus. Mit dem Cocktailglas in der Hand blickt man von den Bistrotischen am wohlgepflegten Swimmingpool übers Meer auf das kahle Stück Land, das da zum Greifen nah scheint: die Türkei. Abends glitzern die Lichter von Cesme herüber.
Gerade fünf Kilometer breit ist das Meer an der engsten Stelle. Apostolos ist ein Schlitzohr. Vorhin, beim Telefonat, verlangte der örtliche Autovermieter noch 30Euro pro Tag. Jetzt addieren sich plötzlich die Steuer, mehrere Versicherungen, der halbvolle Tank auf fast das Doppelte. Aber immerhin: Er steht pünktlich vor dem Hotel. Vorbei an Pinien und Olivenhainen führt die grüne Uferstraße nach Norden. Zwischen Klöstern mit blauen Kuppeln und kleinen Fischerdörfern steht eine Prachtferienvilla neben der anderen; angeblich stammt jeder zweite griechische Reeder von Chios.
In Haarnadelkurven zieht die Straße hinauf auf fast 800 Meter. Dort steht das Kloster Nea Moni, drei Nonnen leben hier. Als die beiden deutschen Gäste kommen, sitzen sie gerade beim Kaffee an einem großen Holztisch im Schatten der Kirchenkuppel. Ganz selbstverständlich steht eine von ihnen auf, zeigt die 800 Jahre alten Mosaiken, den langen Steintisch im Refektorium, den Speisesaal des Klosters, führt zum Schrank mit den bleichen Schädeln ihrer Vorgängerinnen.
Sanft und grün, mit wilden Walnussbäumen und Zypressen zieht sich die Landschaft Richtung Süden. Geranien und Hibiskus duften in kleinen Gärtchen, schmale Stichstraßen enden an flachen Kiesstränden. Der schönste von ihnen ist Emborio: zwei weitgeschwungene Sicheln aus rabenschwarzen, völlig rundgeschliffenen Vulkankieseln. Immer noch sind es nur wenige Touristen, die am glitzernden Wasser den Tag verträumen - es gibt nur eine Apartmentanlage.
Ein besonders lauschiges Plätzchen, um den Tag ausklingen zu lassen, ist das Dorf Pirgi. Alle Häuser rund um den Dorfplatz sind mit traditionellem, schwarzweißem Kratzputz verziert, dessen geometrische Muster einen hübschen Kontrast zum Leben an den kleinen Tavernentischen unter den Platanen abgeben. Von den Balkonen hängen meterlange Zwiebel- und Tomatenketten zum Trocknen. Vor ihrer Haustür rollen schwarzgekleidete Frauen auf hölzernen Tabletts kleine weiße Kügelchen. Das ist es: Mastix, das süße Geheimnis von Chios. Die Dornbüsche, von denen diese Spezialität geerntet wird, wachsen überall im Mittelmeer, aber nur hier erstarrt der Harz zu glasigen Kügelchen. Wir kaufen uns eine Tube Zahnpasta "Masticdent" - ein lustiges Mitbringsel.