Österreich Das Wunder unter der Piste

Im Inneren des Hintertuxer Gletschers verbirgt sich eine Welt aus funkelnden Kristallen, glasigen Eissäulen und gefrorenen Wasserfällen. Das natürliche Eislabyrinth ist der einzige Ort der Welt, an dem man auf einem Gletschersee Boot fahren kann.

 Immer wieder findet Roman Erler Riesenkristalle und bizarre Eisformationen in der Hintertuxer Gletscherwelt.

Immer wieder findet Roman Erler Riesenkristalle und bizarre Eisformationen in der Hintertuxer Gletscherwelt.

Foto: Pia Hoffmann

Wenn sich Skifahrer und Snowboarder von der gefrorenen Wand ins Tal stürzen, erstreckt sich vor ihnen eine schwarze Piste wie ein weißer Teppich zwischen kargen Gletscherwänden und verschneiten Tannen. Doch 25 Meter unter dem fest gebackenen Schnee, tief unter der dicken Eisschicht, liegt eine Wunderwelt aus glitzernden Hohlräumen, die jeden Weihnachtsmarkt an Glanz übertrifft.

Entdeckt wurde sie 2007 ganz zufällig von Bergführer Roman Erler. „Seitlich an der steilen Eiswand, wo es normalerweise keine Gletscherspalten gibt, ist mir ein zehn Zentimeter breiter Schlitz aufgefallen“, erinnert er sich. „Diesen habe ich vorsichtig aufgebrochen, Eisschrauben in die Wand gedreht und Seile gespannt, sodass ich mich langsam vorwärts bewegen konnte. Ich wusste ja nicht, was ich dort finde und ob das Eis hält, wenn ich drauftrete.“

Was ihn im Inneren des Gletschers erwartete, übertraf jegliche Vorstellungskraft: ein gewaltiges Höhlensystem aus Eis auf mehreren Ebenen. In einigen Hohlräumen funkeln riesige Kristalle, in anderen hängen bis zu zehn Meter lange glasklare Eiszapfen von der Decke. Der Blick nach oben macht sprachlos. Wie mit Swarovski-Kristallen überzogen glitzern Schnee- und Eisgebilde in allen Größen und Formen. Aus den Wänden schießen gefrorene Wasserfälle wie von Zauberhand in plötzliche Schockstarre versetzt. Aus mächtigen Stalaktiten hat der Druck von oben über Jahrtausende bizarre Skulpturen geformt. Eine Wunderwelt im ewigen Eis, wie sie noch nie zuvor jemand gesehen hat. „Am Hintertuxer Gletscher wird seit rund 60 Jahren Ski gefahren“, gibt ihr Entdecker zu bedenken, „und doch hat kein Mensch erwartet, dass es hier so etwas gibt.“

Mithilfe von Verbindungsgängen gelang es Roman Erler, ein 360 Meter langes Wegenetz durch die Eishöhlen zu erschließen und durch Leitern, Stufen und Trittbleche passierbar zu machen. An vielen Stellen mussten Gummimatten verlegt werden, damit niemand ausrutscht. Mit Schutzhelmen dürfen Personen ab sechs Jahren in Begleitung eines kundigen Höhlenführers in die Eiswelt eintauchen. Natur Eis Palast hat Eiskönig Roman sein Zauberreich unter der Piste genannt.

Ein Eistunnel führt
tief in den Berg hinein

An einem kleinen Container neben der Bergstation beginnt der kurze, aber steile Abstieg durch den Schnee zum Eingang in der Gletscherwand. Dahinter führt ein enger Eistunnel über eisige Stufen tief in den Bauch des Bergs. Sofort fällt auf, wie warm es drinnen ist. Verglichen mit den Minusgraden und dem eisigen Wind im Freien wirkt der Eispalast mit seinen null Grad wie ein gemütliches Iglu.

An den Wänden sind Seile zum Festhalten angebracht. Trotzdem ist Eis nun mal glatt, und von oben tropft es. „Von den spitzen Zapfen an der Decke kann keiner herunterfallen, da die Temperatur immer gleich bleibt“, beruhigt Roman Erler. Genau in diesem Moment knackst es im Eis, gefolgt von einem klirrenden Geräusch. „Hm, so etwas habe ich jetzt selbst auch erst zum zweiten Mal gehört“, gesteht der Fachmann. Die Expedition ins ewige Eis ist ein Abenteuer.

Ernsthaft Sorgen muss sich aber niemand machen, denn der Natur Eis Palast ist durch offizielle eisstatische Gutachten für die Öffentlichkeit freigegeben und vom TÜV zertifiziert. Wer den rutschigen Boden nicht unterschätzt, sich auf den Leitern gut festhält und in den niederen Gewölben den Kopf einzieht, hat nichts zu befürchten. Auch wenn die um 30 Prozent dünnere Höhenluft sportlich Ungeübte schnell an ihre Grenzen bringt.

Mit menschengemachten Eishöhlen und künstlichen Schnitzereien hat der Natur Eis Palast nicht viel gemeinsam.  Zwar hat ein örtlicher Künstler für die Kinder eine Holzskulptur des Tuxer Riesen in einer der Eishöhlen versteckt, und der mystischen Stimmung wird durch farbige Lampen etwas nachgeholfen, aber „der Rest ist Natur pur“, versichert Erler mit ehrfurchtsvollem Blick nach oben. „Die Natur ist immer noch der beste Baumeister“.

Ein mehr als 30 Meter tiefer See liegt 35 Meter unter der Piste

Anders als die meisten Eishöhlen, die aus Stein und nur mit Eis überzogen sind, besteht der Natur Eis Palast aus Eis mit Gesteinsbrocken. Und er weist noch eine Besonderheit auf: Da der Hintertuxer Gletscher unten festgefroren ist, rutscht er nicht wie andere Gletscher auf einem Wasserfilm, sondern ist wasserdicht. Am tiefsten Punkt des Natur Eis Palasts, 35 Meter unter der Piste, hat sich daher ein mehr als 30 Meter tiefer See gebildet.

Eigentlich müsste das Wasser gefrieren. „Im Inneren des Gletschers gibt es aber nicht genug Kristallisierungskeime“, erklärt der Höhlenfachmann. „Dazu kommen einige andere Anomalien aufgrund der speziellen Bedingungen.“ So ist der mystische See der einzige Ort auf der Welt, an dem man im Inneren eines Gletschers Boot fahren kann. Zwar nur ein paar Meter hin und zurück, aber immerhin. Auch Kanufahren und Stand-up Paddeling sind möglich. Ganz Abgehärtete versuchen sich sogar im Eisschwimmen. Dafür ist ein ärztliches Attest nötig. „Die meisten hüpfen aber nur kurz rein, machen zwei, drei Züge und klettern ganz schnell wieder raus“, erzählt der Eis-Experte.

30 Meter unter der Bergstation gibt es einen Taucheinstieg für Wissenschaftler. An anderer Stelle wurde ein fast 70 Meter tiefes Loch ins Eis gebohrt. Der weltweit tiefste Forschungsschacht im Eis hat neben der NASA auch Wissenschaftler der Universitäten Heidelberg, Salzburg und Innsbruck auf den Plan gerufen. Wer nämlich glaubt, das ewige Eis sei ein lebensfeindlicher Raum, irrt. „Hier unten existieren Keime, Einzeller, Bärtierchen und der Gletscherfloh, ein Ur-Insekt, das es schon in der Trias vor 200 Millionen Jahren gab“, weiß Roman Erler.

Dort, wo er Lampen installiert hat, hat sich das wässrige Eis grün verfärbt, was auf Algenwuchs schließen lässt. „Das Wasser birgt viele Rätsel, die noch lange nicht gelöst sind“, sagt er. Ein paar Geheimnisse werden daher wohl für immer auf Eis liegen.

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