Eine Annäherung an das Herz von Buenos Aires

Buenos Aires (dpa/tmn) - Von der Tribüne aufs Parkett: In Buenos Aires, wo der Fußball zum Jubeln und der Tango zum Träumen da ist, verschwimmen die Grenzen zwischen Angst und Mut, Rivalität und Zusammenhalt, Ernst und Spiel.

Eine Annäherung an das Herz Argentiniens.

Eine Violine weint durch die Lautsprecher, zwei Körper bewegen sich elegant dazu über die Plaza Dorrego in Buenos Aires. Die Luft ist spätsommerlich schwer. Der Asphalt entlädt seine Wärme, schickt sie in den wolkenlosen Abend. Ein leichter Wind zwitschert durch die Seitenstraße.

Hier im Zentrum von San Telmo, dem ältesten Viertel der Stadt, treffen sich Paare, Obdachlose, Straßenkünstler und Touristen. Der Charme dieses Platzes zieht Menschen jeder Art an. Ein selbsternannter Militärdiktator fuchtelt mit einem Stock wild in der Gegend umher und erteilt Verkehrsanweisungen. Auf den gut hundert Klappstühlen auf dem Platz saugt man das Hier und Jetzt auf.

Juan ist im südamerikanischen Paris, wie Buenos Aires genannt wird, aufgewachsen, er hat die Abgründe der Stadt am eigenen Leibe erfahren. Seine Gedichte, die er auf der Plaza Dorrego zum Besten gibt, erzählen von Liebe, Wahnsinn und Leidenschaft. Er ächzt unter den schweren Worten, hüpft mit den leichten und verbeugt sich schließlich knietief, als das Publikum applaudiert.

„Wir haben miterlebt, wie unbeständig das Leben hier sein kann“, sagt Juan. „Wir haben die Diktatur überlebt und die Wirtschaftskrise gut zwanzig Jahre später verkraftet. Aber wir wissen nicht, wann der nächste Donner aus dem wolkenlosen Himmel auf uns herabfahren wird. Meine Generation lebt ein Leben, in dem einzig die Unstetigkeit eine Konstante ist.“

Seine Stirn legt sich in Falten. „Siehst du die beiden Tänzer?“, fragt er. „Wie sie sich aneinander ziehen, als wollten sie sich nie wieder loslassen und sich im nächsten Moment voneinander abstoßen, als wäre der Abschied ein endgültiger. So sind wir. Wir leben in Extremen, weil wir nicht wissen, wann es das letzte Mal sein wird.“

Die Reise zum Herzen Argentiniens führt weiter ins Umland, auf die Tribüne über dem Rasen in Avellaneda. Wer die Pforten zum Fußballstadion betritt, wird Gemeinschaft. Statussymbole verschwinden unter dem himmelblau-weißen Trikot. Eine VIP-Tribüne gibt es nicht. Fußball macht hier alle gleich. In wenigen Städten ist das Spektrum der kulturellen Wurzeln vergleichbar weit wie in Buenos Aires.

„Wir haben von allen nur das Beste in uns - oder das schlechteste, wie man es nimmt“, sagt Sergio lachend. Sein italienischstämmiger Großvater kam in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Buenos Aires, seine Großmutter stammt aus Spanien.

Die Masse johlt, jauchzt, grölt. Das Stampfen der tanzenden Füße ist synchron, der Rhythmus schnell, die Musik ohrenbetäubend laut. Die Masse jubelt, tanzt, schreit. Man singt von der Liebe, vom Wahnsinn, von Leidenschaft. „Nur wer diese Leidenschaft teilt, versteht auch den Wahnsinn: Racing Campeón!“, erklingt die Hymne des Vereins. Spätestens hier in Avellaneda, fernab vom städtischen Treiben der Millionenmetropole, inmitten der schweißgebadeten Jubelmasse des Fußballvereins Racing, verdampft die letzte Ähnlichkeit mit dem behüteten Mitteleuropa. „Das“, ruft Sergio, „ist das richtige Argentinien.“

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