Resie-Berichte Großbritannien: Landschaften wie im Gedicht

Steile Hänge, flache Hügel, dichte Wälder, weite Seen: eine Wanderung durch den Lake District auf den Spuren des Dichters William Wordsworth.

Foto: Boundless Reisen

Klein ist es, das Dove Cottage im verschlafenen Weiler Townend am Rande vom nordenglischen Grasmere. Niedrige Decken und enge Räume bestimmen die schummerige Kulisse im Inneren. Die abgenutzten Holzpaneelen und die robusten Steinböden reflektieren kaum das karg einfallende Tageslicht. Hier, in einem einstigen Wirtshaus mit weiß getünchten Mauern, hat also einer der berühmtesten Dichter der englischen Romantik-Epoche gelebt. 14 Jahre lang. Ob William Wordsworth damals schon wusste, welche Welt-Erfolge er mit seiner Lyrik feiern würde?

Zum Zeitpunkt seines Einzuges gemeinsam mit Schwester Dorothy am 20. Dezember 1799 war der Lake Poet 29 Jahre alt. So genannt wurde er in Anlehnung an seine Heimat, den Lake District. Während eines Spaziergangs mit seinem Gefährten Samuel Taylor Coleridge hatte sich der Naturfreund in das Cottage verliebt. Später entstanden darin wichtige Teile seines autobiografischen Gedichtes „The Prelude“.

Davon zeugt eine anthrazitfarbene Steintafel an dem hölzernen Gartenzaun vor dem Häuschen. „Stop here when you are weary / And rest as in a sanctuary.“ Das stammt aus Wordsworths Gedicht „To a butterfly“ („An einen Schmetterling“), das etwa dreieinhalb Jahre nach seiner Ankunft im Cottage entstand: „Mache hier Halt, wenn du erschöpft bist, und ruhe Dich aus wie in einem Schutzraum.“

Fast scheint des Dichters Geist in dem für Besucher begehbaren Häuschen spürbar, etwa beim Anblick der Chaiselongue, die geschwungenen Seiten mit Holz und Korbgeflecht abgesetzt, links ein bunt gemustertes Kissen, mittig, sorgfältig gefaltet, ein handgefertigter Überwurf. „Die Couch erwähnte er in einem seiner bekanntesten Gedichte, The Daffodils“, berichtet der Tour-Guide. Man kann sich bildhaft vorstellen, wie Wordsworth dort, die Beine übereinandergeschlagen, über seine Verse sinnierte.

Am Dove Cottage, pittoresk wie ganz Grasmere, beginnt die rund zweistündige Wanderung durch den Lake District. 16 Seen geben Englands größtem Nationalpark seinen Namen, lange Bergrücken wechseln sich mit kantigen Gipfeln und weich abfallenden, grasbewachsenen Tälern ab. Im Nordwesten ragt der rötlich schimmernde Helm Crag auf. Er trägt die Bezeichnung „Der Löwe und das Lamm“ und wirkt, als neige er sich dem Wanderer zum Gruß entgegen.

Die Straße, genannt Coffin Route, steigt leicht an. Zu Beginn ist sie noch asphaltiert, links bewachsene Steilhänge, rechts wenige Häuser. Hinter ihnen breitet sich das Land aus, Ortskundige erkennen Loughrigg Fell sowie die Seen Rydal Water und Grasmere Lake. Der Name Coffin Route erinnert an den Weg, über den einst die Bewohner des Dorfes Ambleside die Särge ihrer Verstorbenen trugen. Die Ortschaft hatte keine eigene Kirche, bestattet wurde auf dem Friedhof der St. Oswalds Church in Grasmere. Auf einem Stück Felsen, dem „Resting Stone“, ruhten sich die Sargträger aus, bevor sie die letzte Etappe hinter sich brachten.

Nach dem Aufstieg kommt ein Weiher in Sicht: White Moss Tarn, auch bekannt als Skater’s oder Wordsworth’s Tarn. Es heißt, dass William Wordsworth an diesem kleinen Wasserplatz im Oktober 1800 einem Blutegel-Sammler begegnete. Daraus entstand zwei Jahre später sein Werk „Resolution and Independence“. Im Winter lief der Dichter Schlittschuh auf der gefrorenen Oberfläche, in der sich jetzt in einer lauen Brise wehende Blätter spiegeln. Winzige Insekten erzeugen Miniaturstrudel auf dem Wasser. Durch die Baumkronen funkelt in einiger Entfernung erneut der Rydal Water, der das freundliche Blau des Himmels imitiert.

Auf dem Weg liegt das Nab Cottage, in dem einige der Lake Poets residiert haben, westlich davon das Tal Dunney Beck. Immer wieder schweift der Blick in die Ferne, über Täler und Wiesen, auf denen weiße Schafe grasen, markiert mit einem farbigen Fleck auf dem Rücken, vereinzelt in Gesellschaft von Gänsen. Ringsherum wachsen Eichen und Hängebuchen, markieren Hasel, Farn und Brombeersträucher den weichen Waldboden. Faszinierend: die Trockenmauern, die sich durch das Gebiet winden, vor Ewigkeiten aus Naturbruchsteinen errichtet, moosbewachsen, windschief. Keine Kante schließt mit der anderen ab, jeder Stein hat seine eigene Größe, seine eigene Form. Die kilometerlangen Gebilde halten ohne Mörtel, trotzen jedem Wetter und jedem menschlichen Versuch, sie ins Wanken zu bringen.

Inmitten dieser friedlichen Szenerie genoss auch der Dichter unzählige Spaziergänge. Im 18. Jahrhundert machte ihn das zum Pionier, begründete den Wander-Tourismus, der heute in Nordengland so ausgeprägt ist.

Wenig später kommt das Ziel in Sicht: die weißen Fassaden von Rydal Mount, einem stattlichen, verwinkelten Herrenhaus inmitten einer beeindruckenden Gartenanlage. Dort verbrachte ein reich und berühmt gewordener William Wordsworth ab 1813 seine verbleibenden 37 Lebensjahre. Möbel, Fotos und persönliche Gegenstände zeugen von seinem Dasein. Hier wurde sein berühmtes Gedicht „The Daffodils“ veröffentlicht.

Jene Narzissen blühen im Frühjahr in Massen auf einem Hang unterhalb von Rydal Mount. Bis heute erinnert „Dora’s field“ auch namentlich an Wordsworths 1847 verstorbene Tochter. In der Nähe genießen Touristen zum wiederholten Mal den Fernblick auf Rydal Water. Eine hölzerne Bank, sich zart wellende Hügel, sonnenbefleckte Wipfel — der Aussichtspunkt erinnert an den im Garten des Dove Cottage. Die Stille ist magisch. In Wordsworths Worten: „It’s a perfect place to recollect in tranquillity“ — es ist ein perfekter Ort, um sich in aller Ruhe zu besinnen.

Die Autorin reiste mit Unterstützung von Visit Britain.