Historisches Großbritannien: Wenn die Zeit stillsteht
Im Vereinigten Königreich können 300 Gemäuer voller Geschichte und Geschichten besichtigt werden, die der National Trust mit Prinz Charles an der Spitze hegt und pflegt.
Düsseldorf. Das ist eine Geschichte, wie sie die Engländer lieben. Charles Handicott Drew war im China-Handel unermesslich reich geworden. So reich, dass er sich bereits im Alter von 32 Jahren zur Ruhe setzen konnte. Für die britische Aristokratie aber blieb er „der Kaufmann“, bestenfalls ein Parvenü. Um es der sogenannten besseren Gesellschaft zu zeigen, ließ er auf dem höchsten Hügel in der Grafschaft Devon eine Ritterburg erbauen — Castle Drogo.
Das war vor 100 Jahren. Genutzt hat es Charles Handicott Drew nichts. Er wurde trotzdem von Baronen, Grafen und sonstigen Adelsleuten nicht ernst genommen. Sie liebten das Understatement. Tredegar House bei Newport in Wales etwa, das mitnichten ein Haus ist, wie der Name vermuten lässt. Es ist ein Schloss mit 90 Zimmern und einem prächtigen Park drumherum.
300 solcher „Houses“ können besichtigt werden. Sie sind Teil der Geschichte Englands, und sie stecken selbst voller Geschichten.
Um solch historische Gebäude kümmert sich im Vereinigten Königreich der National Trust. Das ist eine hoch angesehene urbritische Institution mit 3,7 Millionen zahlenden Mitgliedern. Dem Trust, kurz NT genannt, geht es seit seiner Gründung 1865 um den Schutz historischer Bauten — und „von England, wo es am schönsten ist“.
Dass die in der Satzung festgeschriebenen Ziele auch erreicht werden, kontrolliert der britische Thronfolger Prinz Charles persönlich. Er ist der Präsident dieser einzigartigen Vereinigung, der sich 61 000 ehrenamtliche Helfer verpflichtet fühlen. Sie führen Besuchergruppen durch die Schlösser des NT und sorgen dafür, dass die Wege entlang der Küsten Großbritanniens nicht zuwachsen.
Der NT kauft keine Besitzungen, er bekommt sie geschenkt. Einen mehrere hundert Jahre alten Wohnsitz zu erhalten, überfordert bisweilen auch wohlhabende Familien. Das gilt insbesondere, wenn für den Erhalt eines solchen Besitzes viele Hausangestellte vonnöten sind. Die kann heute niemand mehr bezahlen. Dazu gab es Zeiten, in denen die Erbschaftssteuer ganze Familien zu ruinieren drohte. In einer solchen Situation war die Übertragung des Besitzes an den Trust ein ehrenwerter Ausweg. Man wusste den Familiensitz in guten Händen und konnte ihn, wenn man wollte, jederzeit besuchen.
Mal wurde eine Stadtvilla verschenkt, mal ein Schloss. Die Beatles John Lennon und Paul McCartney überließen dieser Organisation die Reihenhäuser im ärmeren Teil von Liverpool, in denen ihre Eltern lebten. Als „The Beatles Childhood Homes“ gehören sie zu den Attraktionen, die man nur nach Voranmeldung besuchen kann.
Einmal bekam der Trust sogar ein ganzes Dorf mit 88 Häusern geschenkt. Lacock Village gehörte zu Lacock Abbey, einem reichen Nonnenkloster aus dem 13. Jahrhundert, das um 1750 samt Dorf von der Familie Talbot gekauft worden war. Von Veränderungen hielten die Talbots wenig. Deshalb sieht Lacock Village heute noch so aus wie vor 150 Jahren. An Touristen mangelt es dort nicht. Sie kommen, um einen Ort zu erleben, der wirkt, als sei die Zeit stehengeblieben. Die Bewohner haben noch eine andere Erklärung: Dies hier ist eine begehrte Kulisse für historische Fernseh- und Kinofilme. Im Herrenhaus, dem ehemaligen Schlaf- und Wohntrakt der Augustinerinnen von Lacock, wurden einige Szenen der Harry-Potter-Filme gedreht. „So etwas wollen die Leute bestaunen.“
Nicht zu vergessen: die Besichtigung des wichtigsten Winkels der Foto-Geschichte. „In diesem Haus hat Henry Fox Talbot das Positiv-Negativ-Verfahren für die Fotografie erfunden — bis zum Aufkommen der Digitalfotografie die wichtigste Fototechnik überhaupt.“ Neben dem Erkerfenster hängt eine Kopie des ersten Fotonegativs der Welt: „Damit die Leute vergleichen können. Damit erklärt sich das Verfahren von selbst“, sagt der Angestellte des NT, der durch das Haus führt.
Dass eine britische Adelsfamilie von der Labour-Partei verehrt wird, gibt es so wohl nur im Fall von Richard Acland. Sir Richard war der Erbe des Killerton-Estates, eines herrlichen Adelssitzes inmitten einer der schönsten Landschaften Englands, etwas oberhalb von Exeter in Devon, nahe vom Dörfchen Broadclyst. Killerton ist mit seinen 30 Quadratkilometern Land, den dazu gehörenden 20 Bauernhöfen und 100 Häusern selbst für englische Verhältnisse riesig. Sir Richard hatte damit ein Problem. Als überzeugter Sozialist schämte er sich seines Reichtums und seines Titels. Deshalb verzichtete er auf seinen Rang und schenkte Killerton-House mit allen Ländereien dem National Trust.
Er hat sich damit ein Denkmal gesetzt. Jede Besichtigungstour beginnt unter den großen Ölgemälden der Acland-Familie, weil die Besucher die Geschichte von Sir Richard gar nicht oft genug hören können. Der Park rund um das Herrenhaus ist in ganz England bekannt. Die Aclands kultivierten hier seltene Bäume aus den britischen Kolonien und verkauften Setzlinge und Samen an andere Adelige. Daran hat sich nichts geändert. Killerton ist immer noch eine erste Adresse für alle, die sich exotische Pflanzen wünschen.
Ob Richard Acland Gefallen an einer weiteren Attraktion in Killerton-House gefunden hätte, ist dagegen mehr als fraglich. Wer will, kann sich hier Kleidungsstücke ausleihen, wie sie im 19. Jahrhundert getragen wurden. „Alles da“, sagt eine ehrenamtlich tätige Schneiderin, die im Haus die Kleiderkammer mit „mindestens 1000 Kostümen“ betreut. „Sie können als Küchenhilfe, Butler oder Hausdame gehen.“ Häufig aber wollen die Besucher in die Rolle eines Landedelmanns oder einer Edelfrau schlüpfen, gern auch in die entsprechenden Gala-Kostüme. Die aber stehen genau für das alte England, das Richard so hasste.