Trinidad Karneval, so richtig heiß und bunt
Auf Trinidad beginnt am Rosenmontag frühmorgens eine wilde Farbschlacht, bei der jeder mitmachen kann.
Spritz! Klecks! Sabber! Im Nu ist das T-Shirt, das eben noch blütenweiß war, von oben bis unten mit Farbe beschmiert. Von einem Wildfremden, in der Hand zwei Farbeimer. Seine weibliche Begleitung streut dem überrumpelten Passanten eine Ladung Puder über den Kopf. Als Garnierung obendrauf, sozusagen. Sind die alle jeck? Ja.
Der J’Ouvert ist der Startschuss zum bunten Treiben — und die wohl eigenartigste Veranstaltung im karibischen Karneval. Noch dazu alles andere als farblos. Vor allem auf Trinidad wächst sich das Ganze zu einer wilden Straßenparty und wüsten Farbschlacht aus. J’Ouvert ist die Kurzform von jour ouvert, französisch für Tagesanbruch. In aller Herrgottsfrühe versammeln sich die Teilnehmer. Vor allem in Port of Spain, der Hauptstadt von Trinidad und Tobago.
Gegen drei Uhr morgens rotten sich die Feierwütigen zusammen. Die Augen der meisten sind geschwollen oder gerötet. Diagnose: durchgefeiert oder durch den Wind. Wer jetzt noch nicht ganz da ist, wird durch wummernde Bässe wach gerüttelt: „De bouncing start, de bouncing start!“ heißt es in einem karibikweiten Karnevalshit. Frei ins Partydeutsch übersetzt: „Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse!“ Die Ersten beginnen zu wippen, vereinzelt kreisen Hüften zu den lauten Soca-Rhythmen. Manche trinken Kaffee, manche Rum. Schon oder schon wieder. Manche schminken sich, manche werden geschminkt — unfreiwillig.
Wenige Minuten vor vier. Gleich wird sich der Tross in Bewegung setzen. Die Luft ist lauwarm, der Himmel schwarz. Die Stimmung: ein merkwürdiger Mix aus Ausgelassenheit und Anspannung. Was nicht nur an der Vorsicht liegt, die im karibischen Karneval ein ständiger Begleiter sein sollte. Nein, eine gewisse Beklemmung in dem bunten Treiben ist gewollt, sie gehört zur Tradition.
Der J’Ouvert geht auf die Zeit der Sklaverei zurück. Zum Karneval äfften die Sklaven das Verhalten ihrer Unterdrücker nach. Um nicht erkannt zu werden, beschmierten sie sich mit Farbe. Aber auch mit Schlamm und Kakaopulver.
Das ist heutzutage zu wertvoll. Deshalb muss Babypuder herhalten. Damit sich eine fiese Masse ergibt, wird hin und wieder Wasser hinterher gegossen. „Water and powder“ heißt es in einer markanten Liedzeile. Immer wieder preschen Quälgeister durch die Menge und pudern und schmieren alles ein, was nicht rechtzeitig in Sicherheit ist.
Auch auf Touristenkameras wird keine Rücksicht genommen. J’Ouvert ist ein Spiel mit der Aggression. Mit Provokation. Mit Dämonen und Trieben. Mit den dunklen Seiten und den menschlichen Untugenden. Die — je nach Blickwinkel — mit einem Mal Spaß machen können. Wer sich auf den J’Ouvert einschwingt, erfährt ein magisches, fast archaisches Spektakel. Und wenn erst einmal die Klamotten besudelt sind, lässt ohnehin auch der Letzte seine Hemmungen fallen. Dann entfaltet auch der Karneval auf Trinidad seine transformatorische Wirkung — und die zuvor geschwollenen Augen beginnen plötzlich zu leuchten.
Die Lebensgeister erwachen. Immer mehr Menschen pusten in mitgebrachte Trillerpfeifen. Sie gehören zur Grundausstattung. Einige Veranstalter haben sie an ihre Kundschaft verteilt. Wer nicht ganz auf sich gestellt feiern will, begibt sich nämlich in Gruppen, so genannte bands, und zahlt dafür einen Obolus. Als Gegenleistung wird Sicherheitspersonal gestellt. Aber auch Pfeifen, ein Kaffeebecher mit Nachfüllgarantie, Einwegrasierer und feuchte Tücher. Die sind allerdings im Handumdrehen verschlissen. Ortsunkundigen sind diese bands anzuraten.
Doch J’Ouvert ist vor allem eine Veranstaltung für die unteren sozialen Schichten. Für jene, die kein Geld für die teuren Kostüme haben, in denen am Tag darauf Hunderttausende durch die Hauptstadt paradieren.
J’Ouvert ist die Stunde für Jedermann. Jeder kann live dabei sein, mittendrin. Zuschauer gibt es beim J’Ouvert so gut wie keine. Denn jeder Besucher ist gleichzeitig Teilnehmer. Jeder wird in das Spektakel hineingerissen. Ob freiwillig oder unfreiwillig.
„De bouncing start . . .“ Wie in Hypnose folgen die Massen den ungezählten Lautsprecherboxen. Sie thronen auf Trucks, die langsam zu rollen beginnen. Es geht durch die City von Port of Spain, in Richtung Hasely Crawford Stadion. Am Freitag vor J’Ouvert wird dort traditionell der Soca-Monarch gekrönt. Jener Künstler, der den jeweiligen Karnevalssuperhit stellt. Das Lied wird immer und immer wieder gespielt. Sobald auch nur die ersten Takte erklingen, gibt es kein Halten mehr: Springen und Hüpfen, Johlen und Jauchzen. Der Soca-Monarch ist ein echter König. Mit seiner Musik herrscht er über die Gefühle des Karnevals.
Die mitunter sehr erotisch sind. Wer nicht hüpft und springt, bleibt mit beiden Beinen fest auf dem Boden und kreist mit den Hüften. Und das nicht lang allein. Hinzugeeilte Tanzpartner beziehungsweise Tanzpartnerinnen verrichten eindeutig zweideutige Bewegungen. „Wining“ nennt sich dieser anzügliche Tanz.
Das Wining und der knappe Fummel vieler Besucher sollten trotzdem nicht missverstanden werden. Der J’Ouvert mag ein verrücktes Tollhaus sein, eine anarchische Spielwiese, eine emotionale Massenentladung — aber ohne Anfassen. In einem weiteren berühmten Karnevalshit gibt es deshalb die Empfehlung: „Wenn er sich nicht benimmt, gib ihm Saures.“ Einige Radiostationen spielen zur Einstimmung das ganze Jahr über Soca — und der besteht eben zu einem großen Teil aus Karnevalstiteln.
Das Stadion ist in Sichtweite, die Teilnehmer wirken wie müde Krieger. Fast jeder sieht aus wie in den Malkasten gefallen. Bis zum Sonnenaufgang des Rosenmontags dauert das bunte, wilde Treiben, bei dem jeder hautnah dabei ist. Live und in ziemlich viel Farbe.
Die Reise wurde unterstützt von Trinidad & Tobago Tourism Development Company.