Uhren anhalten im Dörfchen Biniagual: Der Ort, der vom Tourismus übersehen wurde Mallorcas vergessenes Dorf

Manchmal sind Wanderer da, laufen über Kopfsteinpflaster vorbei an alten Häuschen, ein paar Palmen, an Johannisbrotbäumen bis zum Dorfbrunnen – und staunen: Weil alles so aussieht wie früher und in fast keinem Reiseführer davon zu lesen ist.

 Mandelernte in Biniagual: Alles, was die Bäume an Ernte hergeben, gehört den Mitarbeitern.

Mandelernte in Biniagual: Alles, was die Bäume an Ernte hergeben, gehört den Mitarbeitern.

Foto: Helge Sobik

Eben erst ist die Schafherde durch den Ort gelaufen, einen Moment vorher nur kam ein Transporter und hat in der Bodega ein paar Kisten Wein abgeholt. Hier ist heute meistens noch gestern: So sieht es aus, so fühlt es sich an.

Hinweisschilder Richtung Biniagual sucht man auf Mallorca vergeblich, nur auf den letzten paar hundert Metern gibt es sie, damit nicht doch noch falsch abbiegt, wer unbedingt kommen will. Es sind alles in allem nur eine Handvoll. Und so schnell man dann doch auf die Kopfsteinstraße in den Ort einbiegt, so schnell ist man am Brunnen mitten auf dem Dorfplatz und an der kleinen Kirche vorbei auch schon wieder draußen.

In besten Zeiten der Vergangenheit hatte Biniagual kaum mehr als 50 Einwohner, heute ist es ein gutes Dutzend. Und zwischendurch war der Ort über Jahrzehnte fast ausgestorben.

Inzwischen kommt manchmal Besuch, um hier in den Gärten an langen Tischen zu essen, zu feiern und in der sanierten Dorfkirche zu heiraten. Biniagual ist zur Hochzeits-Location geworden – weil Heiraten und Bilderbuch so gut zusammenpassen. Und weil fast alle Häuser inzwischen dezent und im alten Stil saniert sind. Modefotografen kommen mit ihren Modells für Shootings, Firmen stellen ihren besten Verkäufern neue Produkte vor: weil es Spaß macht, die anderen zu überraschen – auch mit einer Location.

In der Jahren vor der Wiedererweckung des Örtchens war nur Bäuerin Joanaina geblieben, als Biniagual ansonsten menschenleer war und nur noch ab und zu ein paar Podencos von anderswo über die Dorfstraße zogen, Jagd auf Hasen gemacht haben. Manchmal hockte eine schwarze Katze auf der Umfriedungsmauer des alten Herrenhauses oder turnte über die jahrhundertealten rotbraunen Schindeln der Dächer der Häuserzeile an der Hauptstraße. Ab und zu hörte man die wackeligen Pfannen dann hin- und herklackern, als würde selbst ein leichtgewichtiger Kater damit Klänge wie von einem Instrument herbei zaubern. Es war die Melodie, zu der Joanaina mit dem Reisigbesen die Stufen der kleinen Kirche fegte, obwohl längst kein Priester mehr kam. Die Sonne schaute zu, warmer Wind tastete sich durch verwilderte Gärten, pfiff über ungepflegte aufgegebene Äcker mit rötlicher Erde. Inzwischen ist Joanaina umgezogen und wohnt nun im Himmel, ganz bestimmt.

Die Landschaft selbst
ist der Sinn

Schuld daran, dass heute wieder Leben in den Ort zurückgekehrt ist, war ein Deutscher, der nie das Rampenlicht gesucht hat, kein großes Geld damit verdienen wollte und sich stets der Idee widersetzt hat, dort ein Hotel zu bauen. Mit Erfolg. Größerer Sinn war nicht das größere Geschäft. Es ging nicht darum, dass eines Tages Urlauber gepflegte Ländereien mit Olivenbäumen und Zypressen wie gerahmt durchs offene Fenster ihrer Suite sehen können sollten. Es ging um diese Landschaft selbst. Es ging um den größten Sinn überhaupt.

Alles sollte werden wie es war, nicht brachliegen, nicht primär auf Profit ausgerichtet sein. Die Mandeln sollten den Mitarbeitern gehören, die sie ernten, damit sie nicht an den Bäumen vertrocknen. Auch Zitronen bringen wirtschaftlich betrachtet zu wenig, als dass heute jemand neu damit beginnt, sie anzubauen – außer Farbtupfer und Blütenduft gehören zu dieser Landschaft. Ohne sie würde der „Komposition“ eine wichtige Komponente fehlen.

Dass der lokale Wein der einheimischen Rebsorten Manto Negro und Prensal Blanc, der seit 1998 auf 34 Hektar angebaut wird, derart gut geworden ist, dass er stark nachgefragt und exportiert wird, ist ein hübscher Nebeneffekt. Die Etiketten der Flaschen tragen heute den Namen von Biniagual über die Insel, ins Ausland, in die Weinkeller von Spitzenrestaurants in Europa. Und in die Gläser der Weinkenner. Da schließt sich ein Kreis, denn ursprünglich war Biniagual ein Winzerdorf kleiner Weinbauern mit eigenen Parzellen.

Alles begann damit, dass jener Deutsche 1968 den seit einer Reblaus-Plage mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor weitgehend ausgestorbenen Ort und die brachliegenden Ländereien entdeckte und nicht fassen wollte, wie man all das verfallen lassen konnte: wie man zuließ, diesen fruchtbaren Böden nichts mehr abzugewinnen. Er kaufte die Ländereien rund um Biniagual auf, alles in allem gut 170 Hektar, arbeitete sich in das für ihn fremde Feld der Landwirtschaft ein, schaffte Traktoren und Gerätschaften an, stellte Menschen ein, ließ Felder und Plantagen in Schuss bringen. Mit dem Grundbesitz kamen die Häuser des Ortes hinzu – auch das, in dem Joanaina wohnte, die letzte dauerhafte Einwohnerin von  Biniagual.

Viele alte Mallorquiner
können nicht schwimmen

Sie konnte bis zu ihrem Tod bleiben, ohne Miete zahlen zu müssen. Stattdessen einigte man sich, dass sie etwas für den Ort tun würde, und so fegte sie die Kirche. Ihr Dorf hat sie nur selten verlassen. Am Meer war sie nie, auch schwimmen konnte sie nicht – wie viele alte Mallorquiner dieser Zeit, für die ihre Insel zwar vom Mittelmeer umgeben, aber doch eher so etwas wie ein Kontinent war, an dessen Ränder man ohne besonderen Grund nicht zu fahren brauchte.

Welcher deutsche Industrielle aus Frankfurt es gewesen ist, der Biniagual wiederentdeckt und quasi wachgeküsst hat? Er hatte nie den Drang, es allen zu sagen, blieb lieber im Hintergrund, und es existieren nur wenig Fotos von ihm außerhalb des Familienalbums. Er hat es nicht getan, um Schlagzeilen damit zu machen oder PR für seine Firma. 2014 ist er gestorben.

Seine Familie kümmert sich seitdem um den Ort – in seinem Sinne. Und zur Zufriedenheit der Mallorquiner aus der Umgebung, die lange misstrauisch waren, ein großes Ferien-Urbanisations- oder Hotelprojekt fürchteten und nicht so recht an die Ernsthaftigkeit der Idee von Wiederaufbau und Landwirtschaft glauben wollten. Bis bis sie sahen, dass der Priester aus Binissalem wieder regelmäßig zu Erntedank in die Dorfkirche kommt.