Niederlande: Eine Reise zurück in die Kindheit

Nach 25 Jahren noch einmal Urlaub auf Texel, der Wattenmeer-Insel an der Nordspitze Hollands.

Düsseldorf. Da ist es wieder, das Gekreische der Möwen, die das Aussichtsdeck der Autofähre "Doktor Wagemaker" umschwärmen. Ein Vierteljahrhundert lang war die Erinnerung daran verschüttet, doch jetzt fällt mir ein: Die Möwen waren immer die Vorboten des Texel-Urlaubs.

Seit 1969 haben wir Jahr für Jahr die Überfahrt von Den Helder an der Nordspitze Hollands zur größten der westfriesischen Inseln gemacht. Es war unsere Familieninsel, unser Immer-wieder-Urlaub, in dem uns jeder Weg vertraut war. Andere schworen auf andere Orte, aber unser Herz hing an Texel. Eine Rückkehr nach so langer Zeit birgt ein Risiko, denn liebgewordene, vielleicht geschönte Erinnerungen könnten leicht von einer spröden Wirklichkeit überdeckt werden.

Salziger Wind und eine feuchte Brise begrüßen den Texel-Urlauber. Früher sind wir immer gleich nach dem Auspacken zum Strand gewandert. Dazu muss man zunächst das breite Dünenband durchqueren. Es gab jedes Mal einen Wettlauf darum, wer als Erster die letzte Dünenreihe vor dem Strand erreichte und von der Spitze aus das Meer erblickte. An schönen Tagen blendete der Sand wie Schnee.

Wir waren immer schrecklich gespannt, ob es gerade Ebbe oder Flut war. Bei Ebbe stapften wir über den leicht gewellten Grund. Er konnte hart sein wie Stein, aber auch so weich, dass der Fuß im Schlick einsank. Mein Vater verstand es, unsere Sandburgen mit kunstvoll getröpfelten Stalagmiten-Türmchen zu verzieren.

Bei Flut warfen die Wellen Tang und Teer, Quallen, Schaumberge und Seile auf den Strand. Wir marschierten wie frisch geschlüpfte Schildkröten zum Meer, schwammen bis zum Aufweichen zwischen den Wogenkämmen und hielten danach mit nie versiegender Hoffnung Ausschau nach einer Flaschenpost.

Wenn das Wasser wieder zurückwich, lag der noch unberührte Meeresboden vor uns: von keinem Fußabdruck verunstaltet, nur mit dem feinen Gekrakel einer Vogelspur überzogen. "Chocomel en appelgebak" Es gab auch Tage, an denen die Nordsee Mittelmeer spielte und stumm blieb. Die Luft flirrte, und das Wasser war mit seidigem Glanz überzogen. Unser Sonnenschirm warf scharf umrandete Schattenflecke auf den glühenden Sand.

Hielt das schöne Wetter an, vergingen die Tage in wohligem Gleichklang. Zu jedem Strandtag gehörten Eis und Pommes. Die gibt es noch immer in den urigen Bretterbuden, die in Holland "Pavillons" heißen und über denen die abgewetzte rotweißblaue Flagge im Wind knattert. Die Geräuschkulisse hat sich in all den Jahren nicht verändert: nackte Füße auf Holzplanken, Besteck- und Tellergeklapper, leises Lachen, Gesprächsfetzen.

Im Pavillon "Paal 9" am Hoornderslag bediente jahrelang ein besonders gut aussehender junger Mann, der so geschickt das Tablett mit "koffie en appelgebak" balancierte und sich so grazil zwischen den dicht gedrängten Tischen bewegte, dass er nicht nur die Mädchen in seinen Bann zog.

Ich habe nachgesehen: Er ist heute immer noch dort, ein Mann von Mitte 40 mit Ansatz zur Vorderglatze. Der Strandpavillon ist sein Leben geworden. Ist er glücklich am Meer oder bereut er, nie fortgegangen zu sein? Das frage ich mich, als er vor mir steht, und bestelle dann doch nur wie jeder andere eine warme Chocomel, wie der Kakao hier heißt.

Wenn man sehr lange immer an denselben Urlaubsort fährt, erinnert man sich später nicht so sehr an einzelne Jahre. Es sind bestimmte wiederkehrende Erfahrungen, die sich eingebrannt haben: der federnde Boden des Kiefernwalds zum Beispiel, die knirschenden Muschelpfade. Der Möwenschwarm, der im abendlichen Silberlicht vom Wellenbrecher auffliegt, die klatschnassen Oberschenkel, wenn man bei der Fahrradtour zum Leuchtturm mal wieder von einem Regenschauer überrascht worden ist. Das Licht, das abends noch so lange durch die zugezogenen Vorhänge scheint.

Aber nichts ist mir noch so gegenwärtig wie der süßliche Geruch des Gasofens im Ferienbungalow. Viele empfinden ihn als unangenehm, aber ich verbinde damit Urlaub - bis heute.

Wer auf den Spuren der Vergangenheit wandelt, sucht keine Überraschung, er will das Ritual lieb gewonnener Gewohnheiten. Aber natürlich ist ein Vierteljahrhundert nicht spurlos an der Insel vorüber gegangen. Der Haupttouristenort De Koog war früher ein verträumtes Fleckchen mit Postkartenständern und Garnelenkäschern vor den Läden.

Heute dominieren Bars und Diskotheken. Das Kirchlein der reformierten Gemeinde wirkt wie eine alte Dame unter Ballermann-Besuchern. Anderes hat sich zum Vorteil verändert: Beobachtungsfahrten mit dem Fischkutter zu den Robbenbänken gab es früher nicht.

In den 70er Jahren war die Seehund-Population durch die Wasserverschmutzung auf einige hundert Exemplare im gesamten Wattenmeer geschrumpft. Heute sind es allein im niederländischen Teil 7000.

Vom Fischereihafen Oudeschild aus stechen jeden Tag Fischkutter in See, um ihnen einen Besuch abzustatten. Man sollte darauf achten, dass man eine Fahrt bei Ebbe unternimmt, wenn die Sandbänke frei liegen. Ideal ist ein warmer, windstiller Sommertag. Dann räkeln sich die Seehunde in der Sonne wie übergewichtige Strandurlauber, und die Kegelrobben stecken ihre Charles-de-Gaulle-Nasen aus dem Wasser. Auf dem Rückweg werden schnell noch Garnelen gefangen, und jeder Urlauber darf sich eine Tüte mitnehmen.

Hier noch ein Trick, der unter Texel-Kindern von Generation zu Generation weitergegeben wird: Im Hafen von Oudeschild wimmelt es von Krebsen, und die kann man fangen, ohne dabei nasse Füße zu bekommen. Einfach an der Imbissbude etwas Fisch oder Hühnchen kaufen und ein kleines Stück davon auf eine auseinander gebogene Haarspange oder etwas Ähnliches spießen. Das Ganze an ein Tau binden und an der Kaimauer ins Wasser sinken lassen. Die Krebse greifen sofort mit den Scheren zu und klammern sich so fest, dass man sie mühelos aus dem Wasser ziehen kann.

So steht Texel für einen Urlaub der leisen Sensationen. Ein Höhepunkt damals wie heute ist der Montagsmarkt in Den Burg, dem größten Ort der Insel. Undenkbar auch wäre ein Aufenthalt ohne einen Besuch im Naturkundemuseum Ecomare mit seinem Auffangzentrum für Seehunde.

Im Jahr 1972 - im Fernsehen liefen gerade die Bilder von den Olympischen Spielen in München - gab es hier einen blinden Heuler, der neugierig die Hände der Kinder beschnüffelte.

Heute ist eine der ältesten Robben ebenfalls blind. Das ist doch wohl nicht der Kleine von damals? "Kann durchaus sein", sagt der Pfleger. "Unser blinder Seehund ist an die 40 Jahre alt - sogar älter, als ein frei lebendes Tier jemals werden würde." Ferien der leisen Sensationen Nach wenigen Tagen stehe ich schon wieder auf der Fähre und sehe den weißen Kirchturm von Den Hoorn kleiner werden. Als Kind hatte ich dabei immer Magendrücken vor Abschiedsschmerz. Auch jetzt spüre ich ein gewisses Wehmutsziehen. Ob es mein letzter Besuch war?