Brandenburg Safari im Zwischenoderland

Kanäle im Schilf, ein geheimnisvolles Wrack, meterhohe Biberburgen: Eine Paddeltour im Unteren Odertal führt in eine einzigartige Auenlandschaft, die seit mehr als 70 Jahren unberührt geblieben ist.

Eine Paddeltour im deutsch-polnischen Nationalpark Unteres Odertal.

Foto: Oliver Gerhard

Dichtes Grün hat uns verschluckt: Die Pflanzen stehen so hoch, dass der Paddler am Bug immer wieder kurz aufstehen muss um Ausschau zu halten, wo am ehesten ein Durchkommen ist. Von der Besatzung in den Kanus hinter uns ragen nur die Köpfe aus dem Schilf – es sieht aus, als würden sie durch das grüne Meer schweben.

Ein dicker Brei aus Algen, Wasserfarn, Entengrütze und Seerosen lässt das Paddeln zum Staken werden. Assoziationen an afrikanische Landschaften steigen auf, Bilder von Einbäumen im Okavango-Delta. „Ich musste zuerst an den Oranje-Fluss in Südafrika denken“, sagt Kanuführerin Frauke Bennett. „Man wundert sich nur, wo die Nilpferde alle sind.“ Denn um uns wogt nur ein einsames Meer aus Schilf.

Wir stecken tief im Zwischen-
oderland im Internationalpark Unteres Odertal: auf deutscher Seite der gleichnamige Nationalpark, auf polnischer ein 6000 Hektar großes Landschaftsschutzgebiet. Anfang des 20. Jahrhunderts legte man hier zum Hochwasserschutz ein Poldersystem mit Deichen, Brücken und Schleusen an.

Während des Krieges weitgehend zerstört, setzten die Deutschen vieles danach wieder instand, in Polen ergriff dagegen die Natur Besitz von der Auenlandschaft. „Es ist eines der größten zusammenhängenden Moorgebiete Europas“, sagt Frauke. „Hier gibt es schon seit mehr als 70 Jahren so gut wie keine menschlichen Einflüsse mehr und man kann wilde Tiere beobachten, wie sie natürlicherweise leben würden.“

Singschwäne und
Schachtelhalme

Fast 150 Vogelarten brüten in der Region, darunter der Wachtelkönig und die seltenen Trauerseeschwalben. Im Frühjahr und Herbst fliegen Tausende Enten, Gänse und Kraniche ein – und im Winter kann man die Rufe der Singschwäne hören. Mehr als 400 Pflanzenarten bilden ein seltenes Ökosystem. Das älteste Exemplar ist der Schachtelhalm – ein Gewächs aus dem tropischen Klima der Urzeit.

Frauke Bennett gehörte zu den ersten, die das Zwischenoderland 2008 nach Polens Beitritt zum Schengener Abkommen erforschte: „Ich war fasziniert von der einzigartigen Landschaft und dachte, man muss den Menschen zeigen, wie eine naturbelassene Flussaue aussieht. So gingen die Kanutouren los. Aber vorher bin ich das Labyrinth der Wasserwege abgefahren – nur wenige sind befahrbar.“ Kein Wunder bei rund 200 Kilometern Länge.

Auch Mescherin, wo die Kanutour beginnt, scheint aus der Zeit gefallen zu sein: An die steilen Oderhänge schmiegen sich Einfamilienhäuser, bunte Gärten, eine kleine Kirche. Wer den Abzweig von der Bundesstraße verfehlt, findet sich schnell in Polen wieder – im quirligen Städtchen Gryfino. Die Grenze verliert dort ihre Bedeutung, in Mescherin stammt inzwischen fast ein Fünftel der 800 Einwohner aus dem Nachbarland.

Schon bald nach dem Ablegen gleiten wir auf einen rostigen Stahlkoloss zu: ein alter Oderkahn, eingeschlossen von Schilf und Seerosen, mit Einschusslöchern im Rumpf. „Im April 1945 steuerte er mit Geheimauftrag nach Berlin und wurde hier manövrierunfähig geschossen“, sagt Bennett. Seine Fracht wurde erst nach dem Krieg entdeckt, als den Dorfjungs beim Tauchen eine Filmrolle in die Hände fiel.

Die Pforte ins
Zwischenoderland

„Als sie die Bilder zu Hause betrachteten, sahen sie jedoch nicht den erhofften Spielfilm, sondern Aufnahmen von U-Booten und winkenden Mannschaften“, erzählt Frauke. In der russischen Kommandantur, wo sie ihren Fund schließlich abgaben, fand man den Film wesentlich spannender: Taucher entdeckten an Bord ein Verzeichnis aller deutschen U-Boot-Häfen, nach denen die Alliierten während des Krieges gesucht hatten. 100 Meter weiter bildet ein verwittertes Deichtor eine Bresche im Schilf, daneben ein polnischer Grenzpfahl: die Pforte ins Zwischenoderland. Als wir hindurchgleiten, hallen unsere Stimmen wie in einer Grotte, dann finden wir uns in einem fünf Meter breiten Schilfkanal wieder. Die Stille ist überwältigend – kein Automotor, kein Mensch, kein Schiffshorn.

Doch dann schärft sich das Gehör für andere Klänge: das Zwitschern der Schwalben, das Plätschern der Tropfen vom Paddel, das Quaken der Frösche im Dickicht. Vor allem aber das nicht endende Rauschen im Schilf. „Die wichtigste Pflanze hier“, erklärt Bennett. „Es wächst bis zu vier Meter im Jahr, nimmt sich alle seine Nährstoffe aus dem Wasser und reinigt es dabei.“

Die Biber müssen
dort höher bauen

In Fraukes Kanadier wuselt ein vierbeiniger Passagier umher: Babette trägt Schwimmweste und bringt eine Menge Kanu-Erfahrung mit. Die Terrierhündin der Paddelführerin steht mit den Vorderpfoten auf dem Bootsrand, verfolgt flüchtende Blesshühner mit aufmerksamen Blicken und quittiert jedes Gelächter in der Gruppe mit einem Kläffen. „Still, Babette“, ruft Frauke dann.

Ein brauner Hügel schiebt sich ins Bild, fast acht Meter breit und drei Meter hoch. Was auf den ersten Blick wie lose übereinandergeworfenes Holz aussieht, erweist sich als gigantische Biberburg. „Das Wasser kann hier innerhalb eines Tages auch mal um halben Meter ansteigen. Die Nager müssen deshalb höher bauen als woanders“, sagt die Expertin.

Dann, nach drei Stunden Fahrt, der erste Gegenverkehr: Zwei Damen mit türkisen Hüten paddeln vorbei, kurz darauf folgen polnische Jugendliche in neonfarbenen Plastikkanus, die verzweifelt versuchen, Kurs zu halten. Eine kleine Kahnschleuse entlässt uns auf die offene Ost-Oder. Wind bläst, Wellen schlagen, am anderen Ufer leuchten die Häuser von Gryfino.

Mit vereinten Kräften erreichen wir das andere Ufer und gleiten in den Sand eines kleinen Strandbads, neugierig beobachtet von drei Frauen, die gerade ihre dicken Pudel baden. Jugendliche mit studiogestählten Oberkörpern und verspiegelten Sonnenbrillen bräunen sich im Gras, eine Familie lagert um einen Alu-Grill. Babette genießt die Aufmerksamkeit der polnischen Hunde, die um sie herumscharwenzeln.

Der Rückweg führt wieder durch das Schilfmeer. Alle 200 Meter steht ein mächtiger Biberbau, für die Nager ist das eine ungewöhnlich hohe Dichte. Kormorane beäugen uns von einem abgestorbenen Baum, ein Graureiher steht regungslos am Ufer, Seeadler kreisen und einmal blitzt das Gefieder eines Eisvogels im Flug auf. Die Paddler sind still geworden – ganz im Bann des Zwischenoderlandes.