Urlaub als Senner auf der Alm
Aschau im Zillertal (dpa/tmn) - Seit einiger Zeit können Großstädter als Senner auf Zeit in die Berge flüchten. Beim Almurlaub kehrt man ein in die Welt maßkruggroßer Kaffeepötte, wortkarger Bauern und bärtiger Knechte - und lernt, was Zergl und die Texas-Bremse sind.
Hoch überm Zillertal klebt ein hölzernes Haus am Berg, davor ein Rosenstock, ein Stapel Feuerholz, ein Spalier aus Gartenzwergen. Groß ist der Blick ins Tal, auf die steile Bergflanke gegenüber, die Gerlossteinwand in der Ferne. Am Zaun macht sich eine stämmige Grauhaarige mit struppigkurzem Haar und roten Wangen zu schaffen. Als sie mich erblickt, stapft sie herbei, schüttelt meine Hand, führt mich in die Küche und serviert erst mal Apfelstrudel mit Schlagobers. Es ist Anna Kirchmair, Sennerin und meine neue Chefin.
Der Traum vom idyllischen Senner-Dasein lockt mittlerweile viele Stadtmenschen in die Berge. Seit 2004 bieten die Tiroler Senner „Freiwillig am Bauernhof“ an. 2010 kamen 56 Helfer, neben Österreichern die meisten aus Deutschland. Sie führen die Kühe morgens auf die Alm und holen sie abends zurück in den Stall, sie melken oder machen Heu. Sie bekommen kein Geld, aber Kost und Logis, viel frische Luft und etwas, das selbst der runzligste Bioladen nur näherungsweise bietet: Ursprünglichkeit. Manche bleiben einen ganzen Sommer und bewirtschaften als angelernte Senner eigenständig eine Hütte. Andere schnuppern nur ein paar Tage Bergluft, so wie ich.
Erste Lektion: Vor dem Reden kommt das Essen. Kauend schaue mich in der Küche um. Wände, Schränke, Stühle, Tisch, alles geschnitzt aus dicker Zirbelkiefer. Mit am Tisch sitzt ein bärtiger Kerl im Blaumann, sonnengebräunt, vor ihm ein Becher Kaffee, der einem Maßkrug alle Ehre machen würde. „Das ist Zoran“, sagt Anna. „Unser Knecht.“ Ich beschließe, mich als Hilfsknecht zu verstehen.
„Wir gehen jetzt melchen“, befiehlt Anna nach dem Apfelstrudel. Im Stall klingeln elf Kühe. Ich komme aus der tiefsten Provinz, aber gemolken habe ich noch nie. Anna nimmt auf einem Melkschemel Platz und legt Paula das Melkgeschirr an. Dann schmiegt sie den Kopf an die struppige Flanke der Kuh. Wahrscheinlich schützt sie sich so vor Schwanzhieben. Ich entscheide, darin die Zärtlichkeit der Bäuerin zum Tier zu sehen, das sie ernährt. „Eine Kuh gibt etwa zehn Kilo Milch am Tag“, erklärt Anna. Sie spricht zurecht nicht von Litern, so dick ist die dampfende, warme Milch.
Eine Kuh namens Nelke kuriert gerade eine Euterentzündung aus, deswegen will Anna ihr eine Spritze geben. Sie braucht jetzt einen Cowboy. Einen, der die Texas-Bremse beherrscht: Der Kuhschwanz muss hochgehalten werden, damit die Kuh aus dem Gleichgewicht kommt und nicht austreten kann. Zoran ist gerade draußen. Jetzt bin ich dran. Ich lerne, dass ein Kuhschwanz zuallererst ein einziger, mächtiger Muskel ist, den Nelke allzu gern wieder unter ihre Kontrolle brächte. Doch schließlich gewinne ich.
Es gibt jetzt Abendessen, inmitten des Tischs hat Anna einen Turm aus Zergln errichtet, die anderswo Kartoffelpuffer heißen. Schon der Zillertaler Zergl als solcher taugt nicht zur Ikone der fettarmen Küche, aber bei Kirchmairs gibt es noch Schlagobers obendrauf. Auf Radio Tirol jodelt einer. Zoran holt den Schnaps. Nach der dritten Williams-Birne stimmt mich das Lied über „Feuer am Horizont“ sentimental.
Am späten Abend, also gegen halb neun, Alfred und Zoran haben sich schon schlafen gelegt, erzählt mir Anna vom Leben als Sennerin: Dass sie einen serbischen Knecht hat, weil Österreicher zu teuer sind. Dass die Milch ins Tal gebracht wird, weil Käsen auf der Alm sich nicht mehr lohnt.
Als ich gerade beschlossen habe, dass es in den Bergen auch nicht romantischer ist als anderswo, sagt Anna leise: „Es gibt eigentlich nichts, was der Alfred nicht kann.“ Sie seien jetzt über 40 Jahre verheiratet, und was er auch anpacke, er behalte es im Griff. Nochmals: „Der Alfred kann eigentlich alles.“
Schließlich bekomme ich auch noch eine Chance, meine Arbeitshandschuhe überzuziehen. Während ich mit Anna gekocht habe, hat sich die saftige Bergwiese vor meiner Hüttentür in ein großes braunes Erdloch verwandelt. Statt glücklicher Almkühe stehen da jetzt Tiroler Bauarbeiter vor gelben Baggern. Alfred Kirchmair plant einen neuen Keller. Ich grabe mit, bis die Sonne hinter die Berge sinkt.
Alfred und die Arbeiter sitzen inzwischen beim Bier in der Hütte, nur zwei nimmermüde Tiroler Schnauzbärte setzen Stein um Stein auf die Mauern des zukünftigen Kellers - meine Chance zu zeigen, dass der preußische Schreiberling zum Almburschen taugt. Ich bekomme eine Hilfstätigkeit als Steineschlepper zugewiesen. Große, graue Klötze, die ich von einem Stapel auf die Mauer schleppe. Viele Klötze. Bald wird es dunkel, aber solange die beiden arbeiten, mache ich weiter.
Da kommt Alfred, die Pfeife im Mundwinkel, aus der Hütte gestapft und stellt mir wortlos ein Weißbier hin. Ich entschließe mich, das als Lob des Patriarchen zu verstehen. Und mich endlich dem Feierabend zuzuwenden.