Mauerfall-Geschichte: 61 Jahre wussten die Geschwister nicht, dass es einen Bruder gibt

Gerd Hohenstein wurde zur Adoption freigegeben. Erst nach dem Mauerfall konnte er auf Spurensuche gehen. Bruder und Schwester fand er schließlich in Krefeld.

Wiedervereint: Die Geschwister Burckhard Taterra, Ingrid Rosch und Gerd Hohenstein.

Wiedervereint: Die Geschwister Burckhard Taterra, Ingrid Rosch und Gerd Hohenstein.

Foto: Jochmann, Dirk (dj)

Krefeld. 61 Jahre lang wussten die Geschwister Burckhard Taterra und Ingrid Rösch nicht, dass sie einen Bruder haben. Die Mutter hatte ihnen nie gesagt, dass sie ein Kind zur Adoption freigegeben hatte. Erst der Mauerfall vor 25 Jahren und die dann mögliche Akteneinsicht eröffneten Gerd Hohenstein in Sachsen-Anhalt die Möglichkeit, zu reisen und die eigene Familiengeschichte zu erforschen.

Er fand seine Geschwister in Krefeld. Bei der ersten Begegnung im Oktober 2010 flossen die Tränen in Strömen. Keiner zweifelte an der Blutsverwandtschaft, es war Geschwisterliebe auf den ersten Blick.

Doch der Reihe nach. Hohenstein, der zurzeit mit seiner Frau Ilona zu einem der nun regelmäßigen Besuche bei den Geschwistern in Verberg weilt, berichtet: „Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich adoptiert bin. Nach dem Mauerfall wollte ich meine Wurzeln suchen, ich bin ja nicht vom Himmel gefallen.“ Der heute 64-Jährige hat im Standesamt mit der Recherche begonnen und wurde gleich fündig, da der richtige Vater den Eintrag der Adoptiveltern mit seinem eigenen Namen verbessert hatte.

„Unser Vater war sechs Jahre in Kriegsgefangenschaft, die Mutter hatte sicherlich nicht die Möglichkeit, ein drittes Kind alleine durchzubringen. Die Freigabe zur Adoption ist ihr sicherlich schwergefallen, sie war sehr sensibel“, berichtet Ingrid Rösch (68) über die Vermutungen der Geschwister. „Unsere Mutter ist schon vor dem Mauerfall gestorben, auch der Vater lebt nicht mehr.“

Gerd Hohenstein hat bei seinen Adoptiveltern ein sorgenfreies Leben geführt. „Ich habe es gut gehabt. Ich bin nicht böse, hatte eine gute Kindheit.“ Auf jeden Fall hatte er es besser als die Geschwister, die 1953 acht- und zehnjährig mit Vater und Mutter ohne Hab und Gut in den Westen flohen.

Anhaltspunkt war der Name Taterra auf der Geburtsurkunde. Hohenstein setzte sich hin und rief alle 17 Anschlüsse, die er im Internet finden konnte, mit diesem Namen an. Der letzte — natürlich — erreichte den Bruder Burckhard (70). Es war der 17. August 2010, ein Tag vor seinem Geburtstag und wie ein Geschenk. „Wir führten ein vorsichtiges, tastendes Gespräch“, berichtet der ältere Bruder. „Ich rief danach sofort meine Schwester an.“

Ingrid Rösch

Sie hatte mehr Schwierigkeiten. „Ich habe vier Wochen gebraucht, um mich mit der Tatsache auseinanderzusetzen und ins Reine zu kommen. Dann habe ich meinen neuen Bruder angerufen“, erklärt Ingrid Rösch. „Ich hatte weiche Knie, es war total emotional.“

Dann kam der 29. Oktober 2010. „Wir waren aufgeregt, trafen uns auf neutralem Boden, in einem Hotel in Sachsen-Anhalt bei Schmalzbrot und Bier.“ Ingrid Rösch mit ihrem Mann Hans-Jürgen, Burckhard Taterra mit seiner Partnerin Elke Tille und Gerd und Ilona Hohenstein waren dabei.

„Es war wie ein Wunder, als ob wir uns immer gekannt hätten, Zweifel waren sofort ausgeschlossen“, berichtet die glückliche Familienrunde. „Die Tränen liefen in Strömen und die Geschwister umarmten sich pausenlos“, berichten die Partner. „Auch die Ähnlichkeit von Gerd mit unserer Mutter war unverkennbar.“ Ein Fotobuch zeugt von diesem ersten Treffen.

Mittlerweile trifft sich das Sextett regelmäßig mehrmals im Jahr und hat viel Spaß. „Ich besitze sogar das, was ich immer wollte: eine Nichte“, erzählt Ingrid Rösch. „Wenn Aileen ,Hallo Tantchen‘ sagt, dann geht mir das Herz auf.“