Leverkusens Rätsel: So brutal kann Fußball sein
Stuttgart (dpa) - Das Wahnsinns-Remis beim VfB Stuttgart toppte sogar noch die bisherigen Bundesliga-Auftritte von Bayer Leverkusens Rätsel-Fußballern. Trainer Roger Schmidt verstand nach dem 3:3 trotz 3:0-Führung jedenfalls die Welt nicht mehr.
„Ein normales Spiel gibt es bei uns anscheinend nicht“, meinte der Bayer-Trainer entgeistert: „Man hat gesehen, wie brutal Fußball sein kann.“
Mal schafft seine Mannschaft in dieser Saison durch einen rasanten Schlussspurt noch einen Sieg oder wenigstens einen Punktgewinn. Mal kassiert die Werkself in letzter Minute den nicht mehr für möglich gehaltenen Ausgleich. „Keine Ahnung, was es war“, meinte Neu-Nationalspieler Karim Bellarabi und fand „es brutal ärgerlich“. Eine Erklärung für den Bruch und die radikale Wende in der Partie am Samstag in Stuttgart hatte er ebenso wenig seine Kollegen oder sein Trainer.
Nicht mal VfB-Coach Armin Veh fand stichhaltige Argumente für den Einbruch des Gegners und das Comeback seiner längst angeknockten Kicker. Der Routinier erinnerte sich daran, in seiner langen Trainerlaufbahn nur einmal etwas ähnlich Verrücktes erlebt zu haben: „Da führten wir 2:0 und verloren dann gegen sogar nur neun Mann noch 2:3.“ Veh führte die „wahnsinnige Moral“ seiner Mannschaft nach dem Seitenwechsel als einen Grund für die Wende an: „Da haben wir Herz gezeigt und einen großen Aufwand betrieben.“
Möglicherweise hatte Leverkusen angesichts seiner erdrückenden Dominanz und des bevorstehenden Gruppenspiels in der Champions League gegen St. Petersburg zu früh einen Gang zurückgeschaltet und den 15. Sieg in Stuttgart vorzeitig als perfekt abgehakt. „Wir haben das nicht bewusst gemacht“, sagte Schmidt. Stuttgart habe eine Situation gereicht, um im Spiel zurück zu sein. „Wir müssen daraus lernen und die richtigen Schlüsse ziehen“, sagte Schmidt. Und das möglichst schnell. Am kommenden Mittwoch empfangen die Rheinländer die Russen. „Da müssen wir wieder Gas geben - aber über 90 Minuten“, forderte Sportchef Rudi Völler nach dem rätselhaften Auftritt im Ländle.
Mit unbändigem Drang zum Tor, erfrischendem Kombinationswirbel und beeindruckendem Pressing hatte Leverkusen seinem Lieblingsgegner zunächst eine Lehrstunde erteilt. Spielerisch leicht und souverän beherrschte die Werkself die völlig verunsicherten und überforderten VfB-Kicker. Der 3:0-Vorsprung durch Heung-Min Sons frühen Doppelschlag (4. und 9. Minute) sowie Bellarabi (41.) drückte die unglaubliche Überlegenheit nicht einmal angemessen aus. Der nach allen Regeln der Kunst vorgeführte Kontrahent beurteilte die Lage ähnlich. „In der ersten Halbzeit waren wir nicht bundesligatauglich“, konstatierte Veh. „Unser Abwehrverhalten war eine Katastrophe.“ Wegen der „tödlichen Fehler“ hätte es auch 1:5 oder 1:6 stehen können, räumte der VfB-Trainer ein. Dass der schon geschlagen scheinende VfB noch den Ausgleich schaffte, glich einem Fußball-Wunder. Binnen 20 Minuten glichen Timo Werner (57.), Florian Klein (67.) und Martin Harnik (76.) aus und machten so den ganz normalen Bayer-Wahnsinn wahr.