EM 2016 Debütantenball
Gleich fünf Neulinge betreten die EM-Bühne und vier von ihnen sind am Wochenende im Einsatz / Die Novizen dürften das sportliche Niveau zwar verwässern, aber sie stillen auch eine lange Sehnsucht
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Toulouse. Es könnte einer der Geheimtipps werden, an denen sich abseits der gestylten und gesicherten Fanzonen die internationale Anhängerschaft versammelt. „The Four Monkeys“ an der Rue de Metz in Toulouse hat alles, was zum Fußballgucken in ungezwungener Runde nötig ist. Gute Fernseher, große Zapfhähne, gemütliches Ambiente. Außerdem ist es von der Brücke Pont Neuf, dort wo so viele Studenten am Ufer der Garonne in der Abendsonne lümmeln, gar nicht weit. Kurz vor der Eröffnung wirbt das Banner „Euro 2016“ für den Besuch, und draußen über dem Eingang wehen acht Fahnen im Wind. Mehr Platz gibt die Fassade nicht her.
Allemal interessant, für welche Nationen sich die Besitzer entschieden haben. England und Spanien, dahinter Deutschland und Italien, Belgien und Portugal. Dazu natürlich Frankreich. Schlussendlich noch Irland. Geht ja nicht anders, wenn ein „Irish Pub“ beworben wird. Würde eine EM wie noch bis 1992 mit nur acht Teams gespielt, könnte das weitgehend die Besetzung sein. Und nicht unwahrscheinlich, dass die meisten auch im Viertelfinale auftauchen. Bis dahin dauert es jedoch noch geschlagene drei Wochen.
Vorerst gehört die Bühne Mannschaften, die vermutlich nur bedingt das junge französische Publikum ansprechen. Denn die Aufstockung hat die Euro gleichzeitig zum Debütantenball gemacht. Mit Albanien, Island, Nordirland, Slowakei und Wales haben sich gleich fünf Neulinge qualifiziert, was zwangsläufig passieren musste, wenn halb Europa die Zutrittsberechtigung zur Endrunde gewährt wird.
In diesen fünf Nationen besteht naturgemäß ein ganz anderer Blickwinkel. Vier von ihnen sind gleich am ersten Wochenende am Ball. In der Partie Wales gegen Slowakei (Samstag 18 Uhr) treffen zwei Premierengäste aufeinander, und das schöne Bordeaux hätte der Waliser Superstar Gareth Bale ohne die Erweiterung vermutlich nur als Tourist, nicht aber als EM-Teilnehmer gesehen. Zuletzt 1958 bei der WM in Schweden durfte sein Heimatland bei einem Turnier mitspielen, anschließend blieben Individualisten wie Ian Rush oder Ryan Giggs immer Zuschauer, weil das Kollektiv nie stark genug war. So heißt das aktuelle Motto denn auch: „Zusammen. Stärker.“ Trainer Chris Coleman hat übrigens mit Aaron Ramsey vom FC Arsenal noch einen Trumpf in der Hinterhand. Doch mit solch prominenten Einzelkönnern können Albanien, Island oder Nordirland nicht aufwarten. Gleichwohl sind die Fußballer alle als stolze Aushängeschilder ihrer Nation unterwegs, die eine stille Sehnsucht befriedigen: einmal dazugehören. Albanien und Island tragen hierzulande bis heute das Synonym des Außenseiters, weil folgenschwere Nullnummern gegen diese Gegner mit Tiefpunkten deutscher Fußballgeschichte verbunden sind. Auf einem Betonplatz in Tirana verpasste die Nationalelf mal die Fahrkarte zur EM 1968, im windigen Reykjavik kam in einem Qualifikationsspiel zur EM 2004 der legendäre Wutausbruch von Rudi Völler zustande. Alles verdammt lang her.
Bei den Albanern, die am Samstag (15 Uhr) gegen die Schweiz beginnen, hat der italienische Trainer Gianni de Blasi genauso etwas Einmaliges geschaffen wie der schwedische Taktiker Lars Lagerbäck mit dem Einheimischen Heimir Hallgrimsson für die Isländer, deren Fans den einen oder anderer Wikingerhelm mit nach Frankreich führen. Für eine noch begeisterungsfähige Anhängerschaft sollte der deutsche Gruppengegner Nordirland garantieren, der zuerst gegen Polen antritt (Sonntag 18 Uhr). Die Farbtupfer auf den Rängen sind also unbestritten, aber was passiert auf dem Rasen?
Sportlich droht das Niveau zu verwässern. Erstmals sind 51 Begegnungen notwendig, um den Europameister zu ermitteln. Kritiker behaupten: Im Grunde erreichen wohl erst die finalen sieben Spiele — Viertelfinale, Halbfinale und Finale — die Qualität, die der Zuschauer von der Champions League gewohnt ist. Wenn denn Anfang Juli die Topteams noch bei Kräften sind. „Man muss sich überlegen, ob das mit Blick auf die Belastbarkeit der Spieler Sinn macht“, kritisierte erst kürzlich DFB-Sportdirektor Hansi Flick. Manager Oliver Bierhoff fühlt sich mit der aufgeblähten Vorrunde an die ähnlich langatmige Gruppenphase der Champions League erinnert, die „auch nicht mehr so prickelnd“ sei. Das Gute bei dieser EM: Die Novizen haben es selbst in der Hand, sich als Bereicherung zu erweisen. Was beispielsweise die Slowaken um ihren Anführer Marek Hamsik im Augsburger (Regen-)Test gegen Deutschland zeigten, war aller Ehren wert. Und an den aufmüpfigen Repräsentanten einer jungen Republik ist bei der WM 2010 in Südafrika immerhin der Weltmeister Italien gescheitert.