#Euro2016 Wird Joshua Kimmich der neue Philipp Lahm?

Nach seinem selbstbewussten EM-Debüt erntet der 21-Jährige vom FC Bayern viel Lob.

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Paris. Benedikt Höwedes hatte viel Zeit, die außergewöhnliche Atmosphäre im Prinzenparkstadion zu genießen. Die letzten neuen Turnierspiele hatte der Abwehrspieler in der Anfangsformation der deutschen Nationalelf gestanden. Nun aber saß er auf der Bank und genoss dort freie Sicht auf diese zwei neuen Sehenswürdigkeiten, die Paris an diesem Abend zu bieten hatte.

Die nordirischen Fans („Ich hatte Gänsehaut“) und Rechtsverteidiger Joshua Kimmich, „der ein klasse Spiel gemacht“. Besonders an diesem Lob war nicht der Inhalt, der 21-Jährige vom FC Bayern erhielt säckeweise hymnische Grußadressen, sondern der Zusteller: Höwedes war es schließlich, der für Kimmich hatte Platz machen müssen. Aber wie der 27-jährige Schalker, Weltmeister nebenbei, nach der Partie mit der Situation umging, lässt tief blicken in das Seelenleben dieser Mannschaft. Kein Problem habe er mit dem Wechsel, „jeder ordnet sich hier dem großen Ganzen unter und stellt sein Ego hinten an“, sagte Höwedes nach der Partie, und es klang nicht auswendig gelernt. „Es war die richtige Entscheidung, Jo als offensive Variante zu bringen. Er hat das Spiel unheimlich belebt durch seine Flankenläufe und Eins-gegen-eins-Duelle.“

Auf den ersten Blick war die Hereinnahme des jungen Himmelsstürmers die personelle Überraschung dieses Gruppenfinales. Dass Julian Draxler wird weichen müssen und Mittelstürmer Mario Gomez eine Chance erhalten würde, war erwartet worden. Bei genauem Hinsehen indes machte auch die Abwehrrochade Sinn, weil Höwedes‘ offensive Fähigkeiten limitiert sind, gegen die zweitklassigen Nordiren jedoch vor allem Angriffslösungen gefragt waren. Zwar spielt Kimmich beim FC Bayern nahezu ausnahmslos in der Innenverteidigung. Bundestrainer Joachim Löw aber hatte Kimmich schon vor dem Turnier wortreich als Alternative auf Außen ins Spiel gebracht, offenbar sieht er in dem technisch beschlagenen Abwehrmann endlich einen, der das große Erbe des Philipp Lahm antreten könnte.

Wie Lahm in seiner Anfangszeit im Nationalteam trug auch Joshua Kimmich die 21 auf dem Rücken. In seinem erst zweiten Länderspiel und erstem EM-Einsatz agierte der einstige U-19-Europameister nie wie ein Fremdkörper, sondern selbstbewusst. Tatsächlich belebte er das Flügelspiel auf der rechten Seite, war Anspielstation und Initiator von Angriffen. Das Team produzierte Chancen im Minutentakt, und es ist nur eine Ironie dieses Spiels, dass es 1:0 endete.

„Joshua Kimmich hat nach vorn für viel Bewegung gesorgt und hinten viele Bälle gewonnen“, sagte Joachim Löw. „Er hat das sehr gut gemacht.“ Als Zwölfjähriger war Kimmich zum VfB Stuttgart gekommen, wurde jedoch im Jahr 2013 an RB Leipzig abgegeben. Obwohl es eine Rückkaufoption gegeben hatte, schlug der FC Bayern im vergangenen Jahr zu und verpflichtete das Talent für sieben Millionen Euro. Eine Tatsache, die dem Stuttgarter Ex-Trainer Alexander Zorniger später zu folgender drastischer Aussage über die VfB-Verantwortlichen veranlasste: „Ich würde gerne jeden erschlagen, der an dieser Entscheidung beteiligt war.“ Keine Angst, Fredi Bobic lebt noch. Unter Pep Guardiola schaffte der 21-Jährige bei den Bayern den Sprung ins Team und durch seine guten Leistungen in der Bundesliga und der Champions League auch in den EM-Kader. „Gegen Mannschaften, die so defensiv denken, braucht man andere Lösungen. Da ist der Jo prädestinierter als Höwedes“, sagte Löw, dessen Minimalisten mit gerade einmal drei Toren auf sieben Punkte kamen und damit als Gruppenerster ins Achtelfinale am Sonntag in Lille einzogen.

Der Hochgelobte selbst geizte mit Worten nach seinem EM-Debüt: „Alleine ist man nie im Fußball“, sagte er in einem kurzen TV-Interview, „ich habe zehn Leute um mich herum. An der Seitenlinie sind die Ersatzspieler und Trainer. Da hilft jeder jedem. So wurde es mir relativ einfach gemacht.“ Durch die Mixed Zone mit den Reportern eilte Joshua Kimmich stumm.

Dafür sprachen andere. Innenverteidiger Mats Hummels sagte, der Neuling habe „sehr große Qualität und sehr großes Selbstvertrauen. Für uns ist er eine wichtige Option in diesem Turnier.“ Eine Bewertung gab natürlich auch der große Thomas Müller ab, dessen Ringen um sein erstes EM-Tor immer mehr einem bizarren Kampf gegen Windmühlen ähnelt. Müller traf Pfosten, Latte, Torhüter, nur ins Netz ging der Ball nicht. Kimmich, sagte also der Don Quichotte dieser EM, habe zwar nicht gegen einen Weltklasse-Linksaußen verteidigen müssen, „aber er hat das gespielt, was ich von ihm erwartet habe. Und ich hatte hohe Erwartungen.“