Ballett in Düsseldorf: Eine Apokalypse der Herzen

Edouard Lock gilt als Popstar der Tanzkunst. In Düsseldorf zeigt der Kanadier mit seiner Compagnie einen Totentanz der Liebe.

Düsseldorf. Die Tanzkunst kennt - neben Pina Bausch - wenige Popstars. Einer von ihnen ist zweifellos Edouard Lock. In den 80er und 90er Jahren schockierten der wilde Kanadier und seine Compagnie La La La Human Steps mit Genderästhetik und subversivem Hochgeschwindigkeitstanz. Ihr Markenzeichen: die geschraubte Drehung in der Horizontalen.

Inzwischen wandte sich Edouard Lock romantischen Ballettklassikern zu. Gerade hauchte er "Schwanensee" und "Dornröschen" den Zeitgeist ein und choreografierte einen Totentanz der Liebe. "Amjad" nannte er das atemlose Werk, derzeit im Tanzhaus NRW zu bestaunen, vieldeutig: Der Titel, der sich auf einen arabischen Vornamen bezieht, für Männer wie für Frauen verwendet, verweist auf eine Universalität der Thematik über Kulturkreise und Geschlechterrollen hinweg.

Das sehnsuchtsvolle Schwanenmotiv erklingt, nein krächzt, aus dem Hintergrund, wo ein Streichertrio und ein Pianist an einem Flügel platziert sind. Hektisch tanzt ein schwarz gekleidetes Paar einen Pas de deux. Die Gesichter verhärmt, die Blicke starr, die gehetzten Bewegungen in technischer Perfektion, sind die beiden mehr die Karikatur eines romantischen Paares. Witzig aber ist das nicht, eher verstörend.

Lock inszeniert die Mechanik der Körper als Verweis auf den Seelenzustand. Die reine Technik, perfektioniert bis zur Absurdität, ist es, was von den Balletten übrig geblieben ist. Der Starchoreograf abstrahiert und sublimiert, indem er die anmutige Ausstattung und ausschweifende Dramaturgie streicht und sogar der Musik jede Lyrik, jede Hoffnung auf Glück, nimmt. Der zeitgenössische Komponist Gavin Bryars dekonstruierte Tschaikowsky, um ihn dann unter Verwendung von Musikstücken David Langs und Blake Hargreaves’ neu zu arrangieren. Es ist die Kraft dieser Musik voller "Schwanensee"- und "Dornröschen"-Zitate, die Kraft der Erinnerung, die diesen neun hochtrainierten, menschlichen Tanzmaschinen Leben einhaucht und den vier Männern sogar etwas Gefühl.

In wenigen Szenen nähern sie einander an in rundem, fließendem Idiom. Wie befreit, zelebrieren sie weiche Ports de Bras. Mit seiner Hingabe und Leidenschaft vermag es einzig Dominic Santia, den Zuschauer zu rühren. Er darf seine Gefühle zeigen, während Lock die anderen, meist in Paaren, von einem Beziehungsdrama zum nächsten hetzt und in ihren Körpern gefangen hält. Dabei gebärden sich die Frauen in ihren schwarzen Korsagen so widerspenstig wie eine Dornenhecke. Hochvirtuos, auf Spitze tanzend, zieren, sträuben und wehren sie sich, mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit, die ein großartiges Lichtdesign durch Blenden, kurz wie ein Wimpernschlag, noch beschleunigt.

Neunzig Minuten dauert diese Apokalypse der Herzen - gefühlt etwas länger. Selbst der choreografische Einfallsreichtum eines Edouard Lock kennt Grenzen.

Weitere Aufführungen heute und morgen, Tanzhaus NRW, Düsseldorf, Karten: 0211/17 27 00 und am 30. August, Jahrhunderthalle, Frankfurt.

Vita Edouard Lock, 1954 in Casablanca/Marokko geboren, wuchs in Montréal/Kanada auf und studierte Literatur und Film. 1980 gründete er La La La Human Steps und erreichte mit seinen Klassik-Dekonstruktionen weltweit Kultstatus. Er arbeitete mit internationalen Ensembles sowie David Bowie und Frank Zappa.