Meinung In der Flüchtlingskrise ist Merkel jetzt eine Getriebene
Keine Frage, es gibt Entwicklungen, die die Politik zwingen, sehr schnell zu handeln. Dann bleibt nur begrenzt Zeit, die Konsequenzen zu bedenken. Angela Merkel hat sich vor etwas mehr als einer Woche in so einer Situation im Alleingang dafür entschieden, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen.
Das war ein humanitärer Akt. Die Deutschen haben Merkels Vorgehen mehrheitlich honoriert. Was hätte sie anderes machen sollen?
Der Vorwurf kann jetzt nicht sein, dass die Kanzlerin so gehandelt hat, wie sie es getan hat. Sondern: Sie hat die Konsequenzen einer solchen Maßnahme nicht durchdacht.
Die Kanzlerin hat nach ihrer Entscheidung zu wenig deutlich gemacht, dass es sich um eine einmalige Aktion handelt. Sie hat keine europäische Krisenpolitik mit Nachdruck betrieben, wie sonst bei Bankenpleiten oder der Griechenlandkrise. Merkel hat zudem Zehntausende Flüchtlinge in dem Glauben gelassen, es lohne sich, sich auf den Weg zu machen. Die sitzen nun praktisch in der Falle zwischen Österreich, Ungarn und Serbien. Sie hat den Deutschen suggeriert, dass die Bewältigung des Andrangs zu schaffen sei.
Das Gegenteil ist der Fall, wie sich in München, Dortmund und anderswo zeigt. Eine Debatte darüber, wie viele Menschen in Deutschland noch aufgenommen werden können, und wie der Zuzug nicht nur kurzfristig begrenzt werden kann, wird immer drängender. Beim Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten heute muss sie geführt werden.
Das alles ist ungewöhnlich für Merkel. Gilt sie doch als Physikerin der Macht, die Entscheidungen gründlich überlegt — selbst wenn der Druck immens ist. In der Flüchtlingskrise jedoch nicht. Wenn man so will, war es ähnlich nach der Katastrophe von Fukushima und bei Griechenland. Da hat die Kanzlerin im Handstreich den ungeordneten Ausstieg aus der Atompolitik verkündet, hat neue Rettungspakete geschnürt — mit dem Ergebnis, dass die Energiewende verkorkst wirkt und Griechenland weiter am Abgrund steht.
Auch Merkel scheint nicht frei davon zu sein, Politik durch Betroffenheit zu ersetzen. Sie erinnert damit an ihren Vorgänger mehr, als ihr lieb sein dürfte: Gerhard Schröder. Auch der regierte aus dem Bauch heraus. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Tat dies gleichwohl öfter. Nach Griechenland und Fukushima ist Merkel in der Flüchtlingskrise eine Getriebene. Und es ist nicht absehbar, dass sich das rasch ändern wird.