Meinung Merkel muss Flirt mit dem „Postfaktischen“ beenden

Am Dienstag wird in jeder Hinsicht ein historischer Tag: An dem Ort, an dem Angela Merkel vor 16 Jahren als Nachfolgerin von Wolfgang Schäuble Vorsitzende der CDU Deutschlands wurde, stellt die CDU-Chefin sich nicht nur zur Wiederwahl für das Parteiamt.

Foto: Schwartz, Anna (as)

Die Wahl ohne Gegenkandidaten in Essen ist zugleich die Abstimmung darüber, wie geschlossen die mitgliederstärkste und letzte wirklich verbliebene Volkspartei sich hinter die Kanzlerkandidatur ihrer Vorsitzenden stellt.

Dabei könnte ein Unwort eine Rolle spielen, dem Merkel im September nach dem Wahl-Debakel der Berliner CDU selbst auf die Bühne des offiziellen Sprachgebrauchs geholfen hatte: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen“, erklärte Merkel und antwortete in dem ihr eigenen Pragmatismus: „Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser zugegeben komplizierten Phase besser herauskommen werden, als wir in diese Phase hineingegangen sind.“

So einfach kann die Kanzlerin es sich künftig nicht mehr machen. Sie darf weder sich noch ihre Partei noch das Land noch Europa „postfaktischen Zeiten“ überlassen, in denen jeder populistische Schreihals die gefühlte Temperatur in den Raum brüllen und damit Debatten und Wahlen gewinnen kann. Merkel selbst weiß das auch. In der Vergangenheit mag es unschlagbar gewesen sein, die Mehrheitsmeinung der Deutschen in politische Etiketten zu verwandeln und als Leitlinie zu verkaufen, doch das wird für das Wahljahr 2017 nicht ausreichen. Die CDU braucht keinen Symbol-Beschluss zu einer Flüchtlingsobergrenze, damit die Postfaktiker in ihrer Angst vor der AfD ein besseres Gefühl haben. Sie braucht eine sehr konkrete Position, wie Deutschland und Europa eine funktionierende Flüchtlingspolitik gestalten können. Und das gilt für viele Politikfelder, die mit dem „Weiter so“ der Vergangenheit nicht zu gestalten sind — und erst recht nicht mit „postfaktischem“ Gefühlsgeraune.

Diesen Flirt muss die Kanzlerin beenden und zum ersten Mal in ihrer politischen Karriere auf Programmatik statt auf Pragmatismus setzen. Sie muss ihre Rede mit dem Anspruch halten, dass darin das „Wort des Jahres“ enthalten ist, das die Gesellschaft für deutsche Sprache am Freitag bekannt gibt. Und es sollte mit einer erstrebenswerten Zukunft zu tun haben, nicht mit einer „postfaktischen“.