Leitartikel Merkels Realpolitik
Angela Merkel liegt falsch. Ihr Kritiker treibt in der Türkeifrage weniger die Lust am Scheitern an, als der Umstand, dass sich die Kanzlerin in die Hände eines Politikers namens Erdogan begeben hat, der auf demokratische Werte pfeift; der sein Land offenkundig in eine Diktatur umbauen will.
Das ist der Kern ihres Problems: Merkel macht in der Flüchtlingsfrage gemeinsame Sache mit einem Autokraten. Aus Sicht der Kanzlerin ist das Realpolitik. Die Türkei ist schließlich auch Mitglied der Nato, will in die EU und ist durch ihre Grenze zum Konfliktherd Syrien geopolitisch von besonderer Bedeutung. Wer die Flüchtlingskrise beherrschen will, kommt also um eine Kooperation mit dem türkischen Präsidenten nicht herum. Für Merkel gilt frei nach Luther: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.
Genau das ist es, was Merkels Kritiker auf die Palme bringt. Grundrechte, Menschenwürde sind bei einer solchen Haltung vielleicht nicht zweitrangig - aber sie müssen sich unterordnen. Die Kanzlerin ist freilich erfahren genug, um zu wissen, dass sie diese Themen bei ihrem Türkeibesuch heute ansprechen muss, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Das ist zugleich nicht nur das Mindeste, was man von ihr erwarten muss. Sondern es ist ihre Pflicht, den Repressionskurs Erdogans gegen Kurden, Journalisten und Andersdenkende deutlich zu brandmarken. So entsteht Druck, der vielleicht im positiven Sinne nicht folgenlos bleibt. Merkel spielt freilich in die Hände, dass zu einem großen Teil jetzt auch jene mit ihr hadern, die ihr vor wenigen Monaten noch vorgeworfen haben, in der Flüchtlingsfrage gänzlich zu versagen. Sie kann für sich in Anspruch nehmen, standhaft geblieben zu sein. Die Kanzlerin hat immer auf eine europäische Karte mit Hilfe Ankaras gesetzt, um die Flüchtlingskrise zu lösen. Sie ist populistischen Forderungen nach Obergrenzen und Grenzschließungen widerstanden, und sie hat das Dauerfeuer der CSU mit kühler Distanz ignoriert. Der Deal mit der Türkei, er funktioniert. Sagt die Kanzlerin. Und es ist in der Tat nicht so, dass sich die EU auf Drängen Merkels in eine einseitige Abhängigkeit manövriert hätte. Die Türkei hat selbst ein enormes Interesse daran, dass das Abkommen Bestand hat - sie will Visafreiheit für ihre Bürger, sie will Milliardenhilfen. Auch die EU hat somit Daumenschrauben, die sie anlegen kann, um auf Erdogan einzuwirken. Sie muss es nur wollen.
Die Frage, die Merkels Kritiker überdies beantworten müssen ist, was die Alternative zur Zusammenarbeit mit Ankara wäre. Es gibt nur die eine: das Abkommen, den Flüchtlingsdeal gänzlich scheitern zu lassen. Doch das würde niemandem helfen. Der EU nicht, der Türkei nicht und schon gar nicht den Flüchtlingen. Neue Dramen wie im griechisch-mazedonischen Flüchtlingslager Idomeni wären unausweichlich. Und das kann keiner wollen.