Erinnerungen an die Mühen des Neuanfangs in der Fremde

Dass sich Manfred Jautelat und Bodo Jakob für den Verein „Flüchtlingshilfe Burscheid“ engagieren, hat auch biografische Gründe.

Foto: Doro Siewert

Burscheid. Ungeliebter Flüchtling zu sein — Manfred Jautelat weiß, wie sich das anfühlt. Gerade sechs Jahre war er alt, als er und seine Familie nach der Flucht aus Ostpreußen in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein zwangszugewiesen wurden. Der Senior eines Bauernhofs mit angeschlossener Gastwirtschaft musste zwei Räume seines Altenteilerhauses an die Neuankömmlinge abgeben.

Vier Jahre ging das so in der Enge. In dieser Zeit erlebte Jautelat seine Einschulung, musste die ersten Schreibübungen mit Bleistift auf Papier machen, ehe sie vorsichtig wieder ausradiert wurden — bis es endlich irgendwann die ersehnte eigene Schiefertafel gab. Der heute 76-Jährige erinnert sich an das kollektive Pilze- und Bucheckernsammeln der Flüchtlinge im Wald, an die Holunderbeersuppe, die wochenlang auf dem Tisch stand und deren Geruch er daher bis heute nicht mehr erträgt. Und an die rühmliche Ausnahme jenes einen Bauern, der der Familie mit einer Koppel für die zwei Pferde, einem Stall und einer Kuh den Neuanfang ermöglichte.

Als Jautelat sich angesichts der aktuellen Fluchtdramen entschied, den neuen Verein „Flüchtlingshilfe Burscheid“ zu initiieren, um Spenden zu sammeln und damit Bildungs- und Freizeitangebote zu unterstützen, waren seine eigenen Erfahrungen die biografische Grundierung für diesen Vorstoß. Denn auch das Bewusstsein für den Wert von Bildung in einer Flüchtlingsbiografie hat sich ihm eingebrannt.

Schon Jautelats Vater konnte im Ersten Weltkrieg seine Schulausbildung nicht beenden, weil die Front von der nahen russischen Grenze näherrückte und die Familie vom heimischen Hof fliehen musste. Und Jautelats älterer Bruder erlebte dasselbe am Ende des Zweiten Weltkriegs. „Mir war aufgrund meines Alters als Einzigem vergönnt, meine Schulbildung zu beenden.“ Als zu Hause die Aufnahmebenachrichtigung für das Gymnasium eintraf, sagte sein Vater zu ihm: „Du musst nicht lernen, du darfst lernen, was mir nicht vergönnt war.“ Der Satz hat Jautelat sein Leben lang begleitet.

Bodo Jakob ist 1956 in Gummersbach geboren, selbst war er nie auf der Flucht. Aber die Erfahrungen seines aus dem Kreis Breslau in Schlesien vertriebenen Vaters wirkten in die Folgegeneration hinein: die Geschichten von der amerikanischen Kriegsgefangenschaft, die Dokumente, die seine Odyssee belegen und Sätze enthalten wie „An der Grenze zurückgelassen“. Erst landet der Vater in Sachsen und durchläuft dort eine Schnellausbildung zum Lehrer ohne Studium, dann zieht er zu den Eltern nach Gummersbach, lebt dort mit ihnen in einer Flüchtlingsbaracke. Nur die Wirren des 17. Juni 1953 ermöglichen ihm, seine Frau, die er in Sachsen kennengelernt hatte, dort dann auch zu heiraten, obwohl es keine Einreiseerlaubnis in die DDR gibt.

Über das Lastenausgleichsgesetz können die schlesischen Flüchtlinge schließlich in Gummersbach ein Grundstück erwerben und neu anfangen. „Als Kind habe ich immer gehört, das Haus haben wir uns vom Munde abgespart“, erzählt Jakob. Und die väterliche Prägung sei auf ihn übertragen worden, auch mit dem Satz: „Ich kann dir nichts mitgeben, aber du darfst lernen.“ Jakob gehörte dann 1966 zu dem ersten Jahrgang, bei dem das Zeugnis zum Wechsel auf das Gymnasium genügte.

Nein, natürlich sei die Flüchtlingsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ohne Weiteres mit der heutigen Situation in Deutschland vergleichbar, sagt Jautelat. Damals gab es eine gemeinsame Sprache und kulturelle Prägung, dafür anders als heute aber auch große Armut auf der Seite der Aufnehmenden. Aber Jakob ist sich sicher: „Wenn Menschen die Chance bekommen, etwas aufzubauen, dann tun sie das auch. Aber erst einmal brauchen sie ein Netz.“

Teil dieses Netzes soll der neue Verein sein. Jautelat und Jakob gehören dem Vorstand an. Beide verwiesen vor der Wahl auf der Gründungsversammlung auf ihre biografischen Prägungen. Und beide hoffen, durch den Verein ein bisschen dazu beitragen zu können, dass die Neuankömmlinge möglichst schnell Deutschkenntnisse vermittelt bekommen, um dann Bildungschancen wahrnehmen zu können — und die Chance, sich wieder etwas aufzubauen.