Geschichte Auf Zeitreise in der Kölner Südstadt

Köln · Eher durch Zufall stößt der Autor und Fotograf Eusebius Wirdeier bei seinen Recherchen für den Bildband „Fotogeschichten Sülz und Klettenberg 1855-1985“ im Rheinischen Bildarchiv auf zwei Schwarz-Weiß-Aufnahmen des bekannten Kollegen Chargesheimer vom Platz „An der Eiche“ in der Kölner Südstadt.

Straßenleben an einem Sommernachmittag in den 50er Jahren auf der Severinstraße direkt vor der Torburg.

Foto: Rheinisches Bildarchiv/Chargesheimer

Er macht sich daraufhin auf die Suche nach weiteren Bildern aus dem Severinsviertel, die der bekannte Kölner Fotograf in den Jahren 1955/56 gemacht hat.

Sie zeigen auf eine sehr einfühlsame Art und Weise das Alltagsleben der „kleinen Leute“ im kölschen Veedel rund um die mittelalterliche Vringspooz und fördern auch Dinge an Tageslicht, die, wie ein Teil der römischen Stadtmauer am Blaubach oder das Roxy-Kino am Chlodwigplatz, heute längst verschwunden sind. Manche Aufnahmen waren im Chargesheimer-Bildband „Cologne intime“ bereits abgebildet, andere wurden noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt.

Sommer in der Südstadt
und der „Weiße Sonntag“

Zu sehen ist zum Beispiel das sommerliche Leben auf dem Severinskirchplatz mit Gemüse- und Eisständen. Dort trifft auch ein schicker Mercedes auf eine alte Transportkarre, wobei der bestimmende Wagen dieser Zeit wohl eindeutig der VW Käfer war. Gezeigt werden auf den Bildern Menschen, die einkaufen, tratschen oder die ihrer Arbeit nachgehen. Dazu kommen große Familienfeste wie der „Weiße Sonntag“ mit der Erstkommunion oder der Start des Rosenmontagszugs. Immer wieder sind es Straßenszenen, die viel vom Alltag und von der Mentalität der 50er Jahre preisgeben.

Zu erleben sind bei der Zeitreise in die Südstadt im gerade erschienenen Emons-Bildband auch die Jahreszeiten, wie der Herbst, wenn die Klüttenmänner für warme Wohnungen an der Severinstraße sorgen. Auch viele Einzelhandelsgeschäfte und Gastronomiebetriebe wie das Café von Anna Stork, die Gaststätte Werner, das Lebensmittelgeschäft von Josef Niedecken oder die Metzgerei Brand können wiederentdeckt werden.

Vieles liegt in dieser noch immer vom Krieg geprägten Zeit noch in Trümmern und manches entsteht gerade wieder neu. Wichtige Kölner Institutionen, die das Leben, wie die Schokoladenfabrik Stollwerck oder der Großmarkt, bestimmen, bekommen in Chargesheimers Aufnahmen ebenfalls ihren Platz. Auch auf die Hobbys der Menschen blickt der Fotograf, wenn er zum Beispiel die „Gaststätte zur Taubenbörse“ besucht.

Als Chargesheimer mit seiner Kamera durch die Südstadt und durch andere Kölner Veedel streift, ist der spätere Bap-Frontmann Wolfgang Niedecken gerade einmal fünf Jahre alt. Sein Revier ist damals die Gegend zwischen der Vringspooz und dem Rheinauhafen. Vor dem Lebensmittelgeschäft seines Vaters an der Ecke Severinstraße/Kartäuserwall lernt er laufen, unweit davon hat er zu Beginn seines Studiums sein Atelier. Auch der erste Auftritt von Bap hat seinen Platz in der Südstadt - im alten Chlodwig-Eck.

Das Familienarchiv der Niedeckens in der „Rama-Kiste“

Für den neuen Bildband kramt der Kölner Musiker tief in den eigenen Erinnerungen an die Kindheit und die Jugend sowie im familieneigenen Bildarchiv in einer alten Pappschachtel, der „Rama-Kiste“. Zu sehen ist die Musiklegende auf den alten Fotografien zum Beispiel ganz schick an seinem ersten Schultag 1957. Seine ersten Freiheiten als Kind genießt er im von der Mutter klar abgesteckten Areal zwischen Kartäuserwall, Brunostraße, An St. Magdalenen und der Severinstraße.

Für den Bildband ausgegraben hat Niedecken alte Klassenfotos oder auch Aufnahmen von Familienfeiern, die ihn als weißes „Engelchen mit kurzer, kratzender Wollhose“ bei einer Hochzeit in der Severinskirche zeigen. Dazu kommen Fotos aus dem Familienalltag und vom elterlichen Geschäft inklusive des Opels P4 aus dem Jahr 1936, der als Lieferwagen im Einsatz war. Auf der Rückseite eines alten Lieferscheins sind Niedeckens erste Schreibübungen zu finden.

Der zentrale Chlodwigplatz war für den Musiker damals in Kindertagen der „Nabel der Welt“ mit dem beliebten Roxy-Kino und der Marlboro-Uhr auf der Verkehrsinsel des Kreisverkehrs. Auch andere wichtige Ereignisse in seinem Leben, wie der erste Auftritt von Bap oder die große Arsch-Huh-Kundgebung im Jahr 1992, fanden dort statt. Oft war der jungen Niedecken mit seinem Vater in der Großmarkthalle, dem „Bauch der Stadt“.

Erinnerungen hat er ebenfalls an den von Chargesheimer Mitte der 50er Jahre aufgenommenen Platz „An der Eiche“, wo er als Kind oft mit den Klassenkameraden aus der Volksschule Zwirnerstraße spielte. Dazu kommen jugendliche Mutproben im Rotlichtviertel rund um die Nächelsgasse am Rheinauhafen und der Blick auf die Stollwerck-Besetzung 1980.

Fotoerkundungsgänge
heute in der Kölner Südstadt

In seinem neuen Bildband hat der Fotograf Eusebius Wirdeier die alten Bilder von Chargesheimer mit den Erinnerungen von Wolfgang Niedecken zusammengefügt und durch eigene, aktuelle Fotostreifzüge durch die Südstadt in den Jahren zwischen 2019 und 2023 ergänzt. Vieles wirkt bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit dem eigenen Erleben des heutigen Betrachters in der Südstadt vertraut, erinnert aber auch an den ganz eigenen Blick von Chargesheimer auf den Alltag, der inzwischen 70 Jahre zurückliegt.

Zu sehen ist das ziemlich bunte und quirlige Leben rund um die Severinstorburg und die Severinstraße. Dort finden sich noch immer, glücklicherweise, viele kleine Läden, Kneipen und Brauhäuser. Die Menschen feiern in der Südstadt nach wie vor ihre großen Feste wie Hochzeiten oder die Erstkommunion der Kinder. Es wird fleißig eingekauft und munter getratscht, Karneval mit Einheimischen und Immis begangen oder man genießt auch mal einfach den Tag oder die Nacht im Süden der Stadt. Die tiefen Einschnitte im Südstadtleben wie der Einsturz des Stadtarchivs und das ewige Loch am Waidmarkt werden ebenfalls nicht ausgespart.

So entsteht mit den drei Protagonisten des Bildbands ein eindrucksvolles Panorama der Südstadt in den vergangenen 70 Jahren, mit all den Entwicklungen und Veränderungen, die ein kölscher Stadtteil eben durchläuft. Für den Betrachter und Leser gibt es in diesem Buch sehr viel zu entdecken, vor allem wenn man den Blick auf die Details legt. Wer danach in der Südstadt vor Ort unterwegs ist, wird das Veedel wohl mit etwas anderen Augen sehen.

Chargesheimer, Niedecken, Wirdeier: Fotogeschichten Kölner Südstadt, Emons-Verlag, 240 Seiten, 49,95 Euro