Europapolitik Das sind die Brexit-Folgen für NRW
Düsseldorf · Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird für unser Bundesland heftigere Folgen haben als für die gesamte Republik – zu diesem Ergebnis kommt jetzt eine Studie.
Die deutsche Wirtschaft zittert vor dem Austritt der Briten aus der Europäischen Union. Eine Studie im Auftrag der Grünen im Europäischen Parlament aber kommt jetzt zu dem Ergebnis: Noch lauter dürfte das Zähneklappern speziell in Nordrhein-Westfalen sein. Denn das Bundesland habe in verschiedenen Industriefeldern besonders enge Verflechtungen mit Großbritannien.
„Wir wollen, dass das Land vorbereitet ist“, sagt Terry Reintke, Grünen-Europaabgeordnete und gebürtige Gelsenkirchenerin. Auch wenn noch jetzt nicht absehbar sei, wie der Brexit sich genau gestalte: „Es bleibt spannend.“ Doch gerade jetzt, wo ein Durchbruch erneut gescheitert ist, sei offensichtlich, dass auf diese Gestaltung nicht mehr gewartet werden könne. Deshalb hat Daniel Schade, Politikwissenschaftler an der Universität Magdeburg, im Auftrag der Grünen im Europaparlament untersucht, worauf sich die Wirtschaft, aber auch die Bevölkerung in NRW einstellen muss.
Großbritannien ist wichtiger Exportpartner für NRW
„Es gibt sehr enge Wirtschaftsbeziehungen“, sagt Wissenschaftler Schade. Für NRW sei Großbritannien ein wichtigerer Handelspartner als für Deutschland insgesamt: Nach den Niederlanden und Frankreich ist Großbritannien das drittwichtigste Exportland, der Wert der Ausfuhren beträgt jährlich 13,3 Milliarden Euro – für die Gesamtrepublik stehen die Briten als Ausfuhrpartner nur auf Platz fünf. Noch deutlicher der Vergleich bei den Importen: Da steht Großbritannien für NRW auf Platz acht der wichtigsten Partnerländer, unter den zehn wichtigsten deutschen Partnern indes taucht es gar nicht erst auf.
Seit 2012 hat NRW einen Exportüberschuss mit dem Vereinigten Königreich, der mit der Zeit kontinuierlich gewachsen ist. Vor allem Autos und Autoteile werden ausgefahren, chemische Erzeugnisse, Metalle und Maschinen sowie Nahrungs- und Futtermittel. Die Produktionsketten in der chemischen Industrie sowie bei der Fertigung von Auto- und Maschinenteilen erfordern laut Schade teilweise zahlreiche Grenzübertritte: So werde beispielsweise ein Bauteil aus Großbritannien nach NRW importiert, hier ein weiteres Detail hinzugefügt, woraufhin es zurück auf die Insel geht und so fort. Für diese verflochtenen Prozesse wäre jedes Brexit-Modell, das Zölle auf Im- und Exporte vorsieht, eine Gefahr. „Es gibt schon jetzt einen Brexit-Effekt“, sagt der Forscher. Ein- und Ausfuhren sinken seit dem Referendum im Jahr 2016 stetig.
Britische Firmen investieren
in 50 000 Jobs in NRW
„Auch bei den Investitionen gibt es sehr enge Beziehungen“, erklärt Daniel Schade weiter. Und auch in diesem Fall sind diese enger als mit dem Rest von Deutschland: Firmen aus dem Vereinigten Königreich hatten im Jahr 2016 in NRW Direktinvestitionen von 36 Milliarden Euro getätigt und so etwa 50 000 Menschen einen Job verschafft (über 1400 britische Firmen sind in NRW aktiv) – andersherum investierten NRW-Unternehmen jenseits des Ärmelkanals rund 31 Milliarden Euro und beschäftigten etwa 115 000 Menschen. Allerdings: Rund ein Fünftel der NRW-Firmen, die in Großbritannien vertreten sind, erwägen aufgrund des Brexits, ihre Investitionen zumindest teilweise abzuziehen.
Schades Studie zitiert auch eine Umfrage der nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammer (IHK), wonach zwar 87 Prozent der Unternehmen direkte Exportbeziehungen nach Großbritannien unterhielten, aber bis März nur 45 Prozent sich mit dem bevorstehenden Brexit auseinandergesetzt hatten. „Das macht uns durchaus Sorge“, sagt IHK-Geschäftsführer Matthias Mainz auf Anfrage unserer Zeitung.
IHK-Geschäftsführer spricht von „Lose-lose-Situation“
Hauptproblem sei der Faktor Unsicherheit über die Inhalte des Austrittsvertrags. Aber: „Die Firmen treffen jetzt die Investitions- und Lagerentscheidungen.“ Für einige hingen Umsätze im zweistelligen Prozentbereich an der Brexit-Gestaltung. Die IHK versuche, diese Firmen zu identifizieren und aktiv Unterstützung anzubieten – möglichst bei der Aufrechterhaltung der Handelsbeziehung, einen massiven Trend zur Abkehr von Großbritannien erkennt Mainz noch nicht. Er spricht aber für jedes mögliche Brexit-Modell von einer „Lose-lose-Situation“.
Der Austritt der Briten bedeutet für die Europäische Union aber auch den Verlust eines Nettozahlers: „Es gibt eine Budgetlücke“, erklärt Daniel Schade. In einer Höhe von rund zehn Milliarden Euro, um genau zu sein. Für NRW bedeutete das in der kommenden Förderperiode sinkende Strukturfördermittel: von 4,1 auf 3,3 Milliarden Euro.
„Natürlich wird der Brexit auch Auswirkungen auf die Menschen haben“, so Schade weiter. In NRW lebten rund 25 000 Briten – ein Fünftel aller in Deutschland lebenden Briten. Zum Großteil seien sie im erwerbsfähigen Alter. Für diese Menschen hätte der EU-Austritt herbe Konsequenzen: „Es ist völlig unklar, welchen Aufenthaltstitel sie hätten.“ Und so versiebzehnfachte sich die Zahl der Einbürgerungen in NRW von rund 100 im Jahr 2015 auf zuletzt über 1700, mit steigender Tendenz noch einmal für 2018. Andersherum kennt Wissenschaftler Schade auch die Unsicherheiten von Menschen aus NRW, die wie er eine Zeit lang in Großbritannien gearbeitet hätten: Für ihn sei noch offen, was nach dem Brexit mit seinen Rentenansprüchen geschehe.
Massiv betroffen wird auch die Hochschullandschaft in NRW sein, „da in den meisten Brexit-Modellen bestehende Forschungskooperationen und Austauschprogramme für Studierende enden würden“. Schade sieht hier allerdings auch Chancen für deutsche Unis, an Gelder aus der EU-Forschungsförderung zu kommen, die sich bislang auf die sehr forschungsintensive britische Hochschullandschaft verteilten.
Die Studie zeigt in den Augen von Terry Reintke: „Das Thema sollte hoch auf die Tagesordnung in der Landespolitik.“ Auf Antrag der Grünen im Landtag wird nun eine Enquete-Kommission eingesetzt, die sich politisch mit den Folgen des Brexit für NRW und möglichen Maßnahmen beschäftigen soll. Immerhin: Die negativen Folgen, die sich schon jetzt abzeichnen, hätten die Europaskepsis in den anderen EU-Staaten gedämpft. Und selbst im Falle eines harten Austritts ohne Abkommen wären die Folgen an Rhein und Ruhr ja nicht halb so heftig wie auf der Insel selbst, stellt Reintke klar: „Für NRW wäre ein solcher ,No-Deal-Brexit’ schlimm – in Großbritannien würde Sodom und Gomorrha ausbrechen.“
Auch auf dieses Szenario bereitet sich die Landesregierung konkret vor, heißt es auf Anfrage unserer Zeitung aus dem Wirtschaftsministerium: Neben einem Übergangsgesetz für NRW seien auch Handlungsoptionen für den harten Brexit in der Prüfung. Als einziges Land habe NRW zudem mit Friedrich Merz frühzeitig einen Brexit-Beauftragten berufen, es gebe eine interministerielle Arbeitsgruppe sowie Workshops des Ministeriums für betroffene Unternehmen. Zudem habe NRW.Invest in London ein eigenes Auslandsbüro als Anlaufstelle für britische Firmen eröffnet. Und: Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat sich schon persönlich mit dem EU-Verhandlungsführer Michel Barnier zum Gespräch getroffen.