Auf dem dritten Bildungsweg
Die Karriere von Djamila Böhm verlief alles andere als gradlinig. Mehrmals hörte die Sprinterin auf — und kam stets zurück. Am Sonntag will sie Deutsche Meisterin werden.
Der erste Versuch dauerte gerade mal zwei Wochen. Dann hatte Djamila Böhm die Lust an der Leichtathletik verloren. Es fehlte der Wettbewerb. „Ich war ohne Training direkt eine der Schnellsten. Das hat nicht wirklich Spaß gemacht“, erinnert sich die 24-Jährige, die heute umso mehr Freude daran hat, allen davonzulaufen.
Am liebsten auch am Wochenende, wenn in Nürnberg die Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften anstehen. Läuft alles nach Plan, sprintet Böhm dann über 400 Meter Hürden zu Gold. Idealerweise in unter 56,50 Sekunden — dann hätte sie ihr Ticket für die EM im August im Berliner Olympiastadion sicher. Dort zu laufen, vor fast 80 000 Zuschauern, ist das, was sie antreibt.
Da geht es ihr wie vielen Leichtathleten, die in diesen Wochen versuchen, noch mal besonders schnell zu laufen, hoch zu springen oder weit zu werfen. In ganz Europa stehen Meetings und Meisterschaften an, bei denen hunderte Sportler um die Qualifikationsnormen kämpfen. Aber die wenigsten werden einen Weg dahin genommen haben wie Djamila Böhm aus Unterbilk.
Ursprünglich kommt Böhm aus Köln, seit fünf Jahren lebt sie in Düsseldorf. Sie mag beide Städte. Und sie hatte in beiden Erfolge. In Köln beschränkte sich das aber zunächst auf Basketball. Nach den zwei ernüchternden Wochen auf der Laufbahn wollte sie nicht ganz mit dem Sport aufhören, sie folgte einer Freundin zum Basketball, wurde Westdeutsche Meisterin und spielte um die Deutsche Meisterschaft.
Ihre Stärke war stets das Tempo. Auch im Schulsport ließ sie alle stehen. Immer wieder wurde sie ob ihres Laufstils angesprochen, es doch noch mal mit Leichtathletik zu versuchen. Von Trainern und Lehrern, selbst von Verkäufern in einem Sportladen, die sie kurz auf dem Laufband sahen. „Weil das aus so vielen Ecken kam, bin ich doch mal wieder zum Training“, sagt Böhm — und fand beim TuS Köln rrh. ihre Leidenschaft. Mit 14 Jahren trainierte sie erstmals unter Leistungssportbedingungen.
Doch auch ihr zweiter Versuch in der Leichtathletik fand kein gutes Ende. Zwar schaffte sie es 2009 direkt in den Endlauf bei der U 16-Meisterschaft — gegen teilweise zwei Jahre ältere Konkurrenz. Doch das Laufen wurde zur Qual. „Ich musste mich ständig übergeben, ohne an meine Leistungsgrenze gegangen zu sein“, sagt Böhm. Doch die Ärzte fanden nichts, es sei wohl etwas Psychisches, hieß es. 2013, mit gerade mal 19 Jahren, hörte Djamila Böhm ein zweites Mal auf. Sie zog nach Düsseldorf, um an der Heine-Uni Soziologie sowie Medien- und Politikwissenschaften zu studieren. In der neuen Heimat ging sie ins Fitnessstudio, das Kapitel Leistungssport schien beendet.
Doch irgendwas fehlte. Also wagte Böhm 2015 einen dritten Versuch mit der Leichtathletik, dieses Mal beim ART in Rath. Dort fand sie in Trainer Sven Timmermann nicht nur einen Coach, der sie zu immer neuen Bestzeiten trieb, durch den Heilpraktiker Stephan Giesen gab es endlich einen Grund für ihre Übelkeit: eine Nahrungsmittel-Unverträglichkeit. Böhm verzichte ein Jahr auf Milch und Gluten, „seitdem ist alles anders, ich habe keine Beschwerden mehr“. Das habe sie auch im Kopf befreit.
Den Beweis sieht man in ihren Statistiken: Seit sie beim ART läuft, steigert sie ihre Bestzeit über 400 Meter Hürden jedes Jahr um eine Sekunde. 2016 wurde sie U 23-Meisterin, 2017 gewann sie ihre erste Deutsche Meisterschaft bei den Erwachsenen. Am Sonntag will sie den Titel verteidigen — und ihr Ticket für Berlin.
Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob Djamila Böhm schon weiter in ihrer Entwicklung wäre, wenn sie seit ihrem zehnten Lebensjahr immer nur gerannt und ohne die Pause bei der Leichtathletik geblieben wäre. Das sei schwer zu beantworten, sagt sie, wahrscheinlich hätte sie sich früher entwickelt. „Aber wäre ich auch jetzt mit 24 besser?“ Ohnehin gehen Sportwissenschaftler davon aus, dass eine frühe Konzentration auf eine Disziplin schädlich ist. Wer in der Jugend mehrere Sportarten betreibt, hat motorische Vorteile. „Und Basketball gilt ja als Leichtathletik-ähnlich, da wird auch viel gelaufen gesprungen und geworfen“, sagt Böhm. Der Erfolg gibt ihr Recht.
Ganz ohne Widerstände verliefen aber auch die vergangenen Monate nicht. Weil sie trotz ihres Meistertitels nicht in den A-Kader des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) aufgenommen wurde, fehlte ihr das Geld, um sich optimal vorzubreiten. Mit neun Trainingseinheiten pro Woche und dem Studium konnte sie parallel nicht noch arbeiten gehen. Die frustrierende Realität einer Leistungssportlerin, die in einer olympischen Disziplin die Beste in Deutschland ist, aber weniger verdient als ein Landesliga-Fußballer.
Über solche Vergleiche will sie aber gar nicht nachdenken, bloß nicht demotivieren lassen auf dem Weg nach Berlin. Also startete sie ein Crowdfunding, um im Internet Geld zu sammeln. 6000 Euro waren ihr Ziel, am Ende spendeten 125 Unterstützer gemeinsam 8000 Euro. Nur deswegen konnte sie sich ein Trainingslager für sich und ihren Trainer in Portugal leisten. Weil sie zwischenzeitlich zumindest in den B-Kader des Verbands aufgenommen wurde, gab es ein zweites in Südafrika, das der DLV finanzierte.
Zur Qualifikationszeit für Berlin (56,50 Sekunden) hat es trotzdem noch nicht gereicht. Egal, ob sie in der Schweiz, am Niederrhein, in Belgien oder wie zuletzt in London lief, es fehlte immer etwas. Einmal waren es nur 0,04 Sekunden. Aufgeben ist dennoch nicht drin. Nicht nach diesem Weg an die Spitze. Nicht nach dieser Woche. Am Sonntag hatte sie Geburtstag, am Montag bekam sie ihr Examen an der Heine-Uni. Was wäre ein besserer Abschluss als der nächste Deutsche Meistertitel und das Ticket für die EM in Berlin?