Der Weg aus der Obdachlosigkeit

Familie Rudolf hat sieben Jahre in einer Obdachloseneinrichtung gelebt. Jetzt haben die Fünf wieder eine eigene Wohnung.

Düsseldorf. Immer wenn Elke Rudolf (alle Namen von der Redaktion geändert) die Wohnungstür aufschließt, überkommt sie dieses große Gefühl. Ruhe, nur noch Ruhe. 103 Quadratmeter misst ihre Insel mit Blick ins Grüne im Düsseldorfer Süden. Dort lebt die 43-Jährige mit ihrem Mann und den drei Kindern seit knapp einem Monat.

Den Vertrag mit dem Hausbesitzer hat das Sozialamt geschlossen, die Familie zahlt eine reduzierte Miete. Sie muss jetzt beweisen, dass sie ihren finanziellen Alltag zu organisieren weiß. Erst dann gehört das Glück mit Aussicht ganz und gar ihr.

Die Rudolfs sind eine von vier Familien, die in Düsseldorf zur Probe wohnen. Sie haben Schulden, mussten ihre Wohnungen verlassen. Bei der Rückkehr in ein geregeltes Leben hilft das Sozialamt. Die Behörde besorgt Wohnungen auf dem freien Markt und übernimmt für zwei Jahre die Verantwortung für eine pünktliche Mietzahlung, wie jetzt auch bei den Rudolfs.

Elke und Kai Rudolf, das ist eine Sandkastenliebe. Sie haben auf derselben Straße gewohnt, sind in denselben Kindergarten gegangen. Sie heiraten mit 20 und bekommen drei Kinder. Von nun an muss Kai Rudolf, ein Handwerker, die Familie alleine ernähren. Seine Frau, gelernte Erzieherin, gibt ihren Beruf auf, um sich um die Kinder zu kümmern.

Für ihre 64 Quadratmeter große Wohnung zahlen sie damals 800 Mark Miete. Dazu die Haushaltungskosten, Bahn-Tickets, Versicherung, GEZ-Gebühren, die Tilgung eines Kredits, den die Großeltern für Elke Rudolf aufgenommen hatten, um ihre Ausbildung zu finanzieren: Die 2200 Mark, die Kai Rudolf jeden Monat nach Hause bringt, reichen so gerade.

Dann geht die Waschmaschine kaputt. "Ich wusste nicht, wovon ich eine neue bezahlen sollte, und habe beim Sozialamt um Unterstützung gebeten." Doch man schickt sie wieder nach Hause: Ihr Mann verdiene zu viel.

Sechs Monate wäscht Elke Rudolf daraufhin in der Badewanne. "Ich fühlte mich nur noch veräppelt. Da braucht man einmal Hilfe und wird im Stich gelassen. Wir haben doch immer gearbeitet und alles pünktlich gezahlt."

Strom, Essen, neue Schuhe für die Kinder, die Einschulung - die Rechnungen stapeln sich. "Wir haben dann überlegt, was wir am besten aufschieben können", sagt Elke Rudolf. "Und das war die Miete." Natürlich habe sie geahnt, dass das auf Dauer nicht gut gehen werde. "Aber man fängt an, die Verhältnisse zu akzeptieren und die Folgen auszublenden."

Nach sechs Monaten hat der Vermieter die Nase voll und setzt eine Räumungsklage gegen die Rudolfs durch. "Wir waren von jetzt auf gleich ohne Dach über dem Kopf", sagt Elke Rudolf. Verwandte, bei denen die Familie unterschlüpfen könnte, gibt es nicht, und so bleibt am Ende nur der Gang in die städtische Obdachloseneinrichtung.

"Wir haben uns immer gesagt, dass ist ja nur vorübergehend und dass wir da schnell wieder weg wollen." Doch die 30000Euro Schulden, über welche die Schufa (Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung) Hausbesitzer bei Anfrage informiert, machen viele Chancen zunichte.

"Sieben Jahre haben wir im Obdach gewohnt", sagt Elke Rudolf. "Und eigentlich war es erst gar nicht so schlimm." Die Wohnung ist geräumig, die Nachbarn, darunter auch zwei Familien, sind nett. Aber dann ziehen immer mehr Einzelpersonen ein: Drogensüchtige, Alkoholiker, psychologische Härtefälle. "Ständig war etwas kaputt, immer schrie jemand herum." Oft muss die Polizei eingreifen.

Inmitten dieses Durcheinanders versucht Elke Rudolf die Orientierung zu bewahren. Sie achtet darauf, dass ihre Kinder regelmäßig zur Schule gehen und fängt selbst wieder an zu arbeiten. In dieser Phase wird ihr Mann von seiner Firma für seine hohe Leistungsbereitschaft ausgezeichnet. Eine besonders boshafte Ironie des Schicksals.

Doch die sozialen Kontakte leiden. "Wir wollten nicht über unsere Situation reden und haben uns von unseren alten Freunden immer mehr zurück gezogen", sagt Elke Rudolf. Für die Kinder ist es besonders schlimm. "In all den Jahren haben sie nie einen Freund mit nach Hause gebracht."

Irgendwann kann der geordnete Tagesablauf den Einfluss der elenden Umgebung nicht mehr abwehren. Die Eheleute stehen unter Druck und streiten, der jüngste Sohn beginnt, die Schule zu schwänzen. "Ich habe wochenlang nicht mehr geschlafen", sagt Elke Rudolf. Die Sorge um die Familie, der Lärm ständig zugedröhnter Nachbarn halten wach.

"Ich dachte, wenn wir jetzt nicht hier rauskommen, werden wir so wie die". Sie sei diese Angst einfach nicht mehr losgeworden.

Erst Angela Benninghaus, Sozialarbeiterin bei der Stadt, erzählt der Familie von dem Projekt "Probewohnen" und organisiert die Wohnung, in welcher die Rudolfs seit sechs Wochen ihr neues Leben realisieren.

"Wir sind heute glücklicher als zu Anfang", sagt Elke Rudolf. Die Schulden sind so weit abgetragen, dass sie sich das Träumen wieder gestattet. Einen Roller-Führerschein würde sie gerne machen. In Urlaub fahren. "Irgendwann New York, das wär’ toll."